Walter Tydecks

 

Maß und Übermaß der Symbolisierung bei Nietzsche

Auf dem Gebiet der Wissenschaft liegt dort die größte Macht, wo allgemeingültige Symbole geschaffen werden. Nietzsche fragt, was bei der Symbolisierung geschieht, woher sie ihre Machtfülle erhält, und wie sie sich durchsetzen kann. Die Französische Revolution war für ihn ein aktuelles Beispiel, als eine neue Macht sich in ihren eigenen Symbolen zeigen und behaupten konnte, ihrem eigenen Kalender und eigenen Feiertagen, einem neuen Größenmaß (das metrische System) und einem neuen System der Wissenschaften. Nach dem Krieg von 1870/71 fühlte sich Deutschland ebenbürtig und wollte im Gegenzug andere Symbole postulieren und universal dagegen stellen. Richard Wagner wollte hierfür seinen Beitrag auf dem Gebiet der Kunst leisten, was Nietzsche anfangs philosophisch unterstützte, bevor er sich radikal von diesem Programm abwandte und noch grundsätzlicher danach fragte, was bei solcher Symbolbildung geschieht.

Symbolisierung befindet sich im Wechselspiel von Maß und Übermaß. Jedes Symbol ist ein Maß, das jedoch seine Machtfülle aus einem Übermaß bezieht. Nietzsche ist überzeugt: Maße können nur aus Übermaß entstehen, Übermaße müssen durch Maße begrenzt werden. Maße nehmen in der Gestalt der Symbole die Machtfülle von Übermaßen auf, die Übermaße werden durch die Symbole gebunden.

Mit seinem Verständnis der Symbolisierung gewinnt Nietzsche einen Ansatzpunkt, mit dem er sich sowohl von der klassischen griechischen Philosophie wie von der zeitgenössischen Wissenschaft unterscheiden kann. Platon hatte versucht, philosophische Grundprinzipien zu finden, mit denen die Wissenschaft aus sich selbst heraus begründet werden kann. Das waren für ihn Grenze (peras) und Unbegrenztes (apeiron) (siehe seinen Dialog Philebos). Euklid entwickelte hieraus die Elemente der Geometrie, die Vorbild für den Neuplatonismus wurden. Noch Schelling war daran orientiert, als er seine Naturphilosophie aus den Begriffen des Endlichen und Unendlichen entwickeln wollte. (Die Position von Aristoteles wird gesondert zu untersuchen sein. Er ersetzte in seiner Physik das Unbegrenzte durch den Zusammenhang - synecheia -, einen Begriff, der auch in der Kosmologie von Philolaos vorkommt, siehe dazu unten das Kapitel zu Hestia.)

Maß und Übermaß geht weit über Grenze und Unbegrenztes hinaus. Nietzsche fragt nicht nach den Prinzipien, sondern ihrer Machtquelle. Das Übermaß gibt den Symbolen einen Kraft-Überschuss mit, ihre Mächtigkeit. In einem ersten Ansatz verstand Nietzsche das Übermaß als das Dionysische, das sich mit dem Apollinischen gegenseitig durchdringt. Mit dieser Lösung war er jedoch nie recht zufrieden. Er spürte, dass an seiner Kritik am Christentum und an der Wissenschaft im Namen der Tragödie etwas nicht stimmen konnte. Er war seit den ersten Festspielen in Bayreuth (1876) von Wagner enttäuscht, gab das gemeinsame Projekt auf und verfolgte misstrauisch die weitere Entwicklung in Deutschland. Aber erst in seiner letzten Schrift Anti-Christ kam er zu einem anderen Verständnis des Übermaßes, einer »Symbolik par excellence«, die er an das Leben Jesu band. Er verstand, dass nicht einfach ein Übermaß die Maße der Wissenschaft ermöglicht, sondern dass es darum geht, welcher Art dies Übermaß ist. Er sah religiöse Konflikte größten Ausmaßes voraus, welches Übermaß sich durchsetzen und »seine« Symbole zur Herrschaft bringen wird.

Zugleich unterschied er sich von der zeitgenössischen Wissenschaft. Für die erscheinen die von ihr gebrauchten Symbole völlig harmlos: Sie sind nach dem Prinzip geschaffen, alles möglichst einfach, übersichtlich und universal darstellen zu können. Symbolisierung, das ist für sie Occams Rasiermesser, mit dem alles abgeschnitten wird, was für eine überzeugende Darstellung überflüssig ist. Symbole sind der Rest, der nach dieser Säuberung übrig bleibt und sich durch größte Effizienz auszeichnet. Das ist letztlich das einzige von der Wissenschaft anerkannte Prinzip. Die Wissenschaft spürt nicht einmal, wohin sie sich dadurch im Ganzen treiben läßt. Sie kann nicht anders, als sich unverstanden fühlen, wenn sie mit ihren eigenen Ergebnissen konfrontiert wird. Für Nietzsche ist dagegen nichts weniger harmlos als die Auswahl der jeweiligen Symbole.

Dieser Beitrag steht in engem Zusammenhang mit den Texten über das mathematische und das mythische Symbol und über die Relativitätstheorie. Die Neuplatoniker hatten den Symbol-Begriff bewusst gemacht, von dem Nietzsche ausgehen konnte, ohne sich explizit darauf zu beziehen. Auf der anderen Seite war in der Naturwissenschaft mit Helmholtz, Hertz, Planck und schließlich Einstein eine Richtung entstanden, die mit größter Konsequenz die Maße der Natur vollständig in mathematische Symbole auflösen wollte, dabei jedoch in eine Sackgasse geriet. Dies Programm ist in seiner wissenschaftlichen Leistung nicht weniger faszinierend und einflußreich als die früheren Elemente von Euklid. Vor allem mit der Relativitätstheorie werden von der anderen Seite die Fragen aufgeworfen, die Nietzsche angesprochen hat. Ein besseres Verständnis, was bei der Symbolisierung geschieht, soll helfen, im nächsten Schritt die Frage anzugehen, warum heute alle Versuche scheitern, neue Grundlagen und damit auch geeignete Symbole für eine einheitliche Physik zu finden. Das scheint mit der Grundhaltung von Relativitäts- und Quantentheorie zusammenzuhängen, die nach den religiösen Kämpfen um die richtigen Symbole im Gegenzug so weit als möglich auf alle Symbole verzichten und sich auf mathematische Ordnung des jeweiligen Beobachtungsmaterials beschränken wollen.

Daraus ergibt sich für den vorliegenden Beitrag der Aufbau:

(1) Der Mensch kann nicht mithilfe ihm exklusiv verliehener Kräfte der Natur gegenübertreten, als gehöre er nicht zur Natur. Er kann nie die eigene Natur von sich abstreifen. Glaubt er, sich jenseits der Natur bewegen zu können, dann verfällt er ihr. Will er der Natur mit seinen Maßen etwas vorgeben und sie nach seinen Vorstellungen modellieren, ist er um so schutzloser der Macht der Natur ausgeliefert, weil er nicht bemerkt, wie sich in seinem scheinbaren Triumph über die Natur in seinem eigenen Verhalten und Auftreten die Raubtier-Gesetze der Natur von innen durchsetzen. »Hören auf die Natur« - auf die eigene Natur und die uns umgebende Natur -, ist daher Ausgangspunkt aller Ansätze, Symbolisierung und damit Wissenschaft nicht einseitig verstehen zu wollen.

(2) Die Wissenschaft vergißt oder verdrängt ihre eigene Gründungsgeschichte. Nietzsche fragt daher nach der Entstehung der Symbolisierung und findet sie in der Auseinandersetzung des Apollinischen und Dionysischen im frühen Griechenland. Mit der Symbolisierung wurde das Dionysische »zivilisiert«, indem seine Kraft in die Bahn der Symbolisierung verwandelt wurde. Seither steckt in der Symbolisierung eine verborgene Wildheit, das Übermaß des Dionysischen, das jederzeit wieder durchbrechen kann. Die Gefahr ist um so größer, wenn die Fähigkeit verloren geht, mit deren Hilfe die Griechen das Dionysische aufzunehmen vermochten: Die Kunst auf die Natur zu hören.

(3) Gerade in Deutschland sah Nietzsche ganz real die Gefahr, dass das barbarische Dionysische zum Durchbruch kommen kann. Er verstand diese Gefahr um so besser, als er sich ihr ausgesetzt und von ihr infiziert fühlte.

(4) Die weitere Entwicklung in Deutschland hat alle Befürchtungen Nietzsches weit übertroffen. Daher ist rückblickend festzustellen, dass Nietzsche die mit dem Dionysischen verbundenen Gefahren sogar noch unterschätzt hat. Das entfesselte Dionysische macht dem Menschen die Welt endgültig »unheimisch«. War für Nietzsche Ödipus, der mit seinem Wunsch nach Aufklärung ins Verderben rannte und seine Familie mit sich riss, der Gründungsheros und das Symbol der Wissenschaft, dann wird dessen Tochter Antigone diejenige, die »Unheimisch-zu-sein« auf sich nimmt. In einer äußersten Verirrung des Geistes konnten sich die Denker des deutschen Nationalsozialismus in der Rolle von Antigone sehen, stießen damit jedoch auf die richtigen Fragen. Hestia wurde wieder sichtbar, die nicht mehr am Olymp zu sehen war, als Dionysos dort aufgenommen wurde.

(5) Offenbar im Angesicht des in Deutschland drohenden neuen Dionysischen hat Nietzsche in seinem Anti-Christ seine frühere Gegenüberstellung von Dionysos und »dem Gekreuzigten« völlig umgewertet. Im Anti-Christ verstand er Jesus als »Symbolik par excellence«, von ganz anderer Art als die dionysische Symbolisierung. Von hier aus vermochte er sein Verhältnis zur Wissenschaft völlig zu ändern, ohne dies im weiteren weiter ausführen zu können. Niemand braucht mehr Angst vor der Wissenschaft zu haben, wenn sie sich vom dionysischen Übermaß löst. Mit Jesus wird aus dem Hören auf die Natur ein Hören auf den Menschen, das der Symbolisierung der Wissenschaft eine andere Richtung und Orientierung verleihen könnte. Auch Jesus verkörpert ein Übermaß, das kein Mensch einhalten, sondern sich nur daran orientieren kann. Der größte Vorwurf an das Christentum ist daher, dass es beanspruchte, sich im Besitz der von Jesus vertretenen Lebensmaximen zu befinden, wodurch sich alle moralischen und religiösen Gefühle in Selbstgerechtigkeit und Heuchelei aufzulösen begannen. Jedes Maß ging verloren. Das kann einen rasend machen und mit Hass erfüllen. Trotz besserer Einsicht konnte Nietzsche sich dem bis zum Schluss nicht entziehen.

Hören auf die Natur

Die Kraft zur Symbolisierung entstand in Griechenland aus dem Zusammenstoß des barbarischen Dionysischen mit dem bereits vorgefundenen Apollinischen. Es gab bereits eine Fähigkeit, auf die Natur zu hören, die jedoch noch nicht zu den Symbolen der Wissenschaft geführt hatte. Das ist im nachhinein nur schwer zu verstehen, da heute alles Denken von Symbolen durchdrungen ist. Nietzsche versuchte daher zeit seines Lebens, sich in Zustände zurückzuversetzen, wie der Mensch auf die Natur hören kann, bevor er mit bereits vorgefertigten Symbolen an sie herantritt.

Das Apollinische wird viel zu eng verstanden, wenn es nur im Wechselspiel mit dem später gekommenen Dionysischen gesehen wird. Es steht in der Mitte zwischen dem dionysischen Rausch und der naturphilosophischen Begriffsbildung. Es ist dem Lyriker verwandt, der ebenfalls Laut-Eindrücke aus der Natur in Worte zu bringen versteht. In den nicht veröffentlichten Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (GT) findet sich ein Versuch, das in Worte zu fassen:

»Der Lyriker singt 'wie der Vogel singt', allein, aus innerster Nöthigung und muß verstummen, wenn ihm der Zuhörer fordernd entgegentritt. ... Diese kühnsten und dunkelsten Verschlingungen des Gedankens, dieser ungestüm sich neu gebärende Bilderstrudel, dieser Orakelton des Ganzen, den wir, ohne die Ablenkung durch Musik und Orchestrik, bei angespanntester Aufmerksamkeit so oft nicht durchdringen können - diese ganze Welt von Mirakeln sollte der griechischen Menge durchsichtig wie Glas, ja eine bildlich-begriffliche Interpretation der Musik gewesen sein? ... Und wie der Lyriker seinen Hymnus, so singt das Volk das Volkslied, für sich, aus innerem Drange, unbekümmert ob das Wort einem Nichtmitsingenden verständlich ist.« (Nietzsche, Fragmente 1871 12[1] viii, Mappe mit losen Blättern Frühjahr 1871)

Der Mensch läßt sich von der Natur in ein Zwiegespräch führen, versucht in Worten zu wiederholen, was er von ihr zu hören meint, und findet zunächst nur zu Worten, die niemand außer ihm versteht. Möglicherweise wird er sie selbst nicht mehr verstehen, wenn er sie später liest und sich nicht mehr in der Situation der Ergriffenheit befindet, als er mit der Natur zu sprechen vermochte. Den Zauber dieser Situation finde ich nirgends besser in Töne gebracht als in Beethovens Pastoral-Sinfonie und Schumanns Der Vogel als Prophet, eine seiner Waldszenen.

Nietzsche denkt zum Beispiel an die dunklen Worte der griechischen Orakel oder eines Dichters wie Pindar. Sein großes Vorbild ist Heraklit, der »dunkle« Philosoph, von dem er später die Idee des Werdens übernommen hat.

Im Gegensatz zu Sokrates hat die frühe Naturphilosophie in manchen Momenten vermocht, auf solche Weise zu denken.

»Der Philosoph sucht den Gesamtklang der Welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen.« (Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, [1873] Teil 3 v)

Das hat Nietzsche kurz nach der Geburt der Tragödie über Thales geschrieben und ebenfalls nicht veröffentlicht. Erst in Also sprach Zarathustra hat er für die ursprünglichen Worte und Töne eine Formulierung gefunden, die ihm wert war zur Publikation.

»Wie lieblich ist es, daß Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen Ewig-Geschiedenem?
Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt.
Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken.
Für mich - wie gäbe es ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen! Aber das vergessen wir bei allen Tönen; wie lieblich ist es, daß wir vergessen!
Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, daß der Mensch sich an den Dingen erquicke?« (Zarathustra, Dritter Teil, Der Genesende, 2)

Nirgends wird hier von Symbolen gesprochen. Der auf die Natur hörende Mensch steht der Natur zu nahe, um das in feste Symbole zu bringen, was er hört. Er ist von der Natur erschüttert und kann das Gehörte nicht als Symbol festhalten.

Anders als beim Sehen tritt der Mensch der Natur beim Hören nicht gegenüber. Er hört nicht zuletzt auf die eigene Natur, die Regungen und die Gesundheit des eigenen Körpers. Das war kaum jemandem so vertraut wie Nietzsche. Seit 1873 fühlte er sich irgendwie immer krank und musste 1879 seine geregelte Arbeit als Professor in Basel aufgeben. Wohl kein Philosoph und Psychiater hat sich so einfühlend mit Nietzsche beschäftigt wie Karl Jaspers. Welche Bedeutung hatten die Krankheiten für Nietzsche? Jaspers vermutet, dass Nietzsches Krankheiten spätestens seit 1880 aus »biologischen Änderungen« zu erklären sind, unter denen Nietzsche litt und die er verzweifelt verstehen wollte, »Prozessen«, wie Jaspers in seiner Allgemeinen Psychopathologie schreibt, die sich dem Verständnis des Menschen entziehen (Jaspers Nietzsche, S. 108 und Allgemeine Psychopathologie, S. 590ff).

Die »symbolisierte« Wahrheit des Dionysischen

Aus der Fähigkeit, auf die Natur hören zu können, entstand bei den Griechen ein Götterglaube, der die Götter nicht über die Natur stellte. Die Griechen kannten nicht weniger als andere Kulturen das Dunkle und die Schrecken des Daseins, Nietzsche bezeichnet es mit dem Waldgott Silen, einen ursprünglichen Naturgott: Wer einmal die nackte Wahrheit gesehen hat, wünscht sich, nie in diese Welt geboren zu sein und hofft nur noch auf den Tod.

Aber ähnlich, wie das Lied, die Lyrik und bei einigen Naturphilosophen die Begriffe der Natur aus dem Hören auf die Natur entstanden waren, gelang den Griechen »die glänzende Traumgeburt der Olympischen« (GT, Kap. 2 iii). Fühlten sie sich von Wahnsinn geschlagen oder von übermächtigen Kräften der Natur überwältigt, erklärten sie sich das aus dem Wirken der von ihnen verehrten Götter. Im Olymp war in der Welt der Götter ein Ausgleich geschaffen worden, der keinen einzelnen Gott zu mächtig werden ließ, der jedem Gott im Ausgleich untereinander dunkle und helle Seiten zusprechen konnte, und der die Götter im Ganzen in die Schranken der Ananke wies. Nietzsche betont, dass dies in der Religionsgeschichte einzigartig ist. Alle anderen Kulturen stellen die Götter übermächtig über die Gesetze der Natur. Wenn Götter mit Attributen aus der Natur versehen wurden - etwa dem Feuer oder die Ähre -, zeigt das, wie die »Traumgeburt« der Götter aus der Natur hervorgegangen ist. Es kann aber noch nicht im heutigen Sinn von Symbolen gesprochen werden. Zeus war nicht Symbol des Blitzes, und der Blitz war nicht Symbol des Zeus. Der Blitz ist nur eine bestimmte Seite von Zeus, die seine Herkunft zeigt, ihn aber nicht vollständig auf ein Symbol reduziert. Symbole hatten noch nicht die eigenständige Kraft, die ihnen erst in Reaktion auf das Dionysische verliehen wurde. Es waren nur Vorläufer der heute bekannten Symbole.

Dies Verhältnis zur Natur und eine frühe mythenbildende Form der Kraft zur Symbolisierung waren bereits vorhanden, bevor Dionysos eintraf. Die Griechen konnten daher anders auf das Dionysische reagieren als alle anderen Völker, die vom Dionysischen überrannt wurden. Sie konnten auf dessen Ton hören wie sie bereits gewohnt waren auf die Natur zu hören, und sie konnten einen Weg finden, das Dionysische als ein neues Element in ihren Olymp aufzunehmen und Dionysos dort eine Stelle zu geben. Das Dionysische wurde in Griechenland verwandelt. Nietzsche sieht daher eine »ungeheure Kluft ..., welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Barbaren trennt« (GT, Kap. 2 iii). Das erklärt sich aus der bereits vorhandenen Kraft zur Symbolisierung. Die wurde jedoch umgewertet, als das Dionysische hereinbrach. Dionysos konnte nur zum Symbol werden, indem gleichzeitig das Dionysische in die Symbolisierung aufgenommen wurde.

Unter diesen Umständen vollzog sich das Dionysische völlig anders als unter den Barbaren. Es war kein bloßer Naturrausch mehr, sondern äußerte sich in Symbolen.

»Wie in das apollinische Leben das dionysische Element eingedrungen ist, wie sich der Schein als Grenze auch hier festgesetzt hat, so ist auch die dionysisch-tragische Kunst nicht mehr 'Wahrheit.' Nicht mehr ist jenes Singen und Tanzen instinktiver Naturrausch: nicht mehr ist die dionysisch erregte Chormasse die unbewusst vom Frühlingstrieb gepackte Volksmasse. Die Wahrheit wird jetzt symbolisirt, sie bedient sich des Scheines, sie kann und muss darum auch die Künste des Scheins gebrauchen.« (Die dionysische Weltanschauung, [1870], Kap. 3 xii)

Die dionysische Symbolik ging über alles hinaus, was vorher an symbolischer Kraft bei der »Traumgeburt der Olympischen« eingesetzt worden war. Zwar ist das Dionysische in Griechenland unterschieden vom barbarischen Dionysos, aber in seiner Symbolik zeigt sich noch dessen volle Kraft.

»Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeuteten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. ... Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Äußerung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muß der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäußerung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Dionysosdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!« (GT, Kap. 2 iv)

Der dionysische Rausch wird zu einer Scheinwelt, die aus der Natur kommende Macht zu einer »künstlerischen Macht«. Dadurch wird zum einen die maßlose Macht des Dionysischen eingeschränkt, sie ist »nur noch« symbolisch. Das war für Nietzsche die große, einmalige Leistung der griechischen Tragödie. Sie hat auf diese Weise den ungehemmten Ausbrüchen des Dionysischen und ihrer selbstzerstörerischen Auswüchse eine Grenze gezogen. Das reale Menschenopfer der heidnischen Kulte wurde verwandelt in das symbolische Opfer.

Aber der Preis war hoch und wird erst mit dem Siegeszug der Wissenschaft in der Neuzeit deutlich. Die ursprüngliche Innigkeit im Hören auf die Natur ist verloren gegangen, künstlerisch und ästhetisch geworden, Schein. Erst aus einer künstlerisch bestimmten Haltung zur Natur erscheint die Natur als etwas Fremdes, Chaotisches, Abgründiges, das keinen Halt zu bieten vermag. Das liegt nicht an der Natur, sondern an der veränderten Einstellung ihr gegenüber. Sie kann nur noch als Schein ästhetisch vorgestellt werden, und innerhalb des Scheins vermag der künstlerische Mensch keinen Halt zu finden.

Halt und Schutz scheinen ihm stattdessen die Symbole zu geben, zu deren Bildung er dank des dionysischen Einbruchs fähig geworden ist. Aber die durch das Dionysische veränderte Kraft zur Symbolisierung kann wie alles Dionysische überschießen. Es hat nicht einfach das Symbolische das Dionysische »zivilisiert«, sondern gleichzeitig wurde das Symbolische mit der Macht des Dionysischen aufgeladen. Die erste Erkenntnis war: Mit den Symbolen entsteht ein Wahrheitsbegriff, der Lüge enthält. Der Mensch hat mit den Symbolen die Wahrheit scheinbar in der Hand und glaubt, sie beherrschen und für seine Zwecke wie ein dienstfertiges Werkzeug einsetzen zu können. Er glaubt, über die Dinge sprechen und bis in den Ursprung der Wahrheit zurückgehen, kreativ neue Wahrheiten schaffen zu können. Dieser maßlose Wahn der Selbstüberschätzung gehört zur Entstehung der Wissenschaft.

Jedes Symbol ist der Metapher verwandt. Es hat die Kraft einer Übertragung, dass es mehr bedeutet, als es unmittelbar aussagt. Jedes Symbol ist mit einem Wahrheitsanspruch verbunden. Es ist entstanden aus dem dionysischen Rausch, als sich der Mensch mit der Natur im Ganzen eins fühlte. Das Einheitsgefühl geht an das Symbol über: Der Rausch hatte sich in Symbolen geäußert, wodurch er ursprünglich gebändigt werden sollte. Aber diese Symbole behalten nun den Wahrheitsanspruch des Rausches, der Mensch sei mit allem eins und könne daher von innen deren Wahrheit aussprechen. Sie geben der Wissenschaft die scheinbare Macht, im Besitz der Wahrheit zu sein. Dagegen setzt Nietzsche, dass solche Wahrheit nicht viel wert ist:

»Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind.« (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, [1872], 1 vii)

Das darf aber nicht im Gegenzug dazu verleiten, nach der Erfahrung mit den übermäßigen Symbolen alle Symbole abzulehnen. Das würde bedeuten, nicht nur das Übermaß abzulehnen, sondern auch die dem Apollinischen zugrunde liegende Fähigkeit, auf die Natur zu hören und Symbole zu erkennen. Daher schätzt Nietzsche an den von ihm besonders bewunderten Künstlern wie Goethe und Wagner, dass sie ihr Werk symbolisch sahen.

»Goethe nennt all sein Wirken symbolisch. So verstehe man auch den Lebensgang Wagners symbolisch. Er beginnt in einer verdorbenen Kunst und zwar den einzigen Punkt entdeckend, wo Kraft ist. Von da aus reinigt er seine Vorstellung von dieser Kunst und sich selbst.« (Fragmente 1875 12[30], Heft Sommer bis Ende September 1875)

Nietzsche sieht mit Sorge, dass die Menschen die Fähigkeit verlieren, Symbole in der Natur zu erkennen und nach ihrem Vorbild eigene Symbole in der Kunst zu bilden. Er sieht sich mit Goethe und Wagner eins, wenn er dieser Entwicklung entgegenarbeiten will. Denn mit dem Verlust der Symbolisierung bleibt nur die rohe Natur übrig und es drohen neue Ausbrüche des Dionysischen, die nicht mehr in Symbole gebracht werden können.

»Der Stein ist mehr Stein als früher. - Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höchstens das Grauen, - aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung. - Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.« (Menschliches Allzumenschliches, Erster Band, Viertes Hauptstück - Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller, 218)

Um so wichtiger ist es, die Geburt der Wissenschaft aus dem gleichen Geist zu verstehen wie die Geburt der Tragödie, aus der symbolisierenden Bändigung des Dionysischen, statt Wissenschaft und Tragödie einander gegenüber zu stellen. Hier sehe ich bei Nietzsche einen Bruch. Obwohl alles bereit liegt, schlägt er nicht den Bogen von der symbolisierten Wahrheit des Dionysischen zur Wissenschaft, sondern sieht die Wissenschaft von etwas Neuem, gänzlich Unerklärbarem getrieben, ihrem unbändigen Optimismus. Aber wo kommt der her, wenn nicht aus einer griechisch verwandelten Form des Dionysischen? Nietzsche will mit einem Zitat von Lessing zeigen, dass der Wissenschaft die Suche nach der Wahrheit wichtiger ist als die Wahrheit selbst, weil sie überzeugt ist, auf diesem Weg von immer neuen Erfolgen bestätigt zu werden (siehe GT Kap. 15 III).

»Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz - . Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!« (Lessing, Eine Duplik, 1778, zitiert nach Projekt Gutenberg, in der Originalversion komplett als GoogleBooks verfügbar).

Das vollständige Zitat zeigt, dass Lessing im Grunde Nietzsche weit näher steht, als Nietzsche zugeben mag. Was Nietzsche meint, ist dennoch klar. Allerdings ist ihm wie Lessing die innere Verbindung entgangen: Die Wissenschaft ist sich ihrer selbst so sicher, da sie über die Kraft der von ihr gebrauchten Symbole verfügt. Das geht weit über den unbestimmten »Trieb nach Wahrheit« hinaus und verleiht ihm erst die notwendige Machtfülle. Das läßt sich an allen Wissenschaften nachweisen: Die mathematischen Symbole des Unendlichen, die physikalischen oder biologischen Symbole. Die Wissenschaft verdankt alle ihre Erfolge ihrem Gebrauch von geeigneten Symbolen, die das Unbegrenzte umfassen, und ihrer Gewißheit, dass über die Symbole der Bezug zur Wirklichkeit hergestellt ist, dass sie dank der ihr gegebenen Symbole wahr ist.

Statt hier zu kritisieren, wie die Wissenschaft damit unbemerkt das dionysische Übermaß in sich aufnimmt, es keineswegs in harmlose Symbole des Unbegrenzten bannen und ihnen daher auf Dauer keinen Widerstand mehr leisten kann, kann Nietzsche Sokrates als ihren ersten exemplarischen Vertreter nur wie einen negativen Deus ex machina auftreten lassen, der wie aus dem Nichts in die Welt der griechischen Tragödie eintritt.

Nietzsche hat gezeigt, wie in Griechenland die »Welt der Symbolik« entstanden ist, dann aber den Faden verloren, wie die Wissenschaft diese Symbole aufgriff und mit ihnen zu arbeiten verstand. Er neigt dazu, Kunst und Wissenschaft einander gegenüberzustellen und den Verlust der Fähigkeit zur Symbolisierung einseitig der Wissenschaft anzulasten. Es ist aber eine Spätwirkung der dionysischen Durchtränkung der Kraft zur Symbolisierung. Die Wissenschaftler selbst sind sich dessen am wenigsten bewußt.

Bisweilen kommt Nietzsche dieser Erkenntnis allerdings sehr nahe. Für ihn ist »Ödipus Symbol der Wissenschaft«, »der letzte Philosoph, der letzte Mensch« und wie Prometheus eine Maske des Dionysos (Fragmente 1870 7[22], Heft Ende 1870 - April 1871; Fragmente 1872 19[131], Heft Sommer 1872 - Anfang 1873; GT, Kap. 10 i). Ödipus hat geglaubt, das Geheimnis der Sphinx erraten zu haben. Sein Durst nach Aufklärung kannte keine Grenzen, bis er die Wahrheit über sich selbst erfuhr. Wie Dionysos geopfert wird, damit die Ernte gelingen, die Natur ihren Gang gehen und die Menschen weiter leben können, sind auch Gründungsfiguren der Wissenschaft notwendig, die mit ihrem Schicksal bezahlen müssen, wenn sie über alle Grenzen gehen und der Menschheit Wege des Überlebens sichern. Nietzsche war sich bewusst, wie gefährlich diese Einsicht ist, da sie dazu missbraucht werden kann, von anderen eine Opferrolle zu erwarten.

Alles, was mit Nietzsche über die Tragödie des Ödipus gelernt werden konnte, ist heute zum Verständnis der symbolischen Wissenschaft aufzunehmen. Die symbolische Wissenschaft hat die gleiche Tendenz, ihre eigenen Grundlagen zu zerstören wie Ödipus in seinem tragischen Willen zur Aufklärung. Nicht die Wissenschaft hat die Tragödie zerstört, sondern beide mussten einen Weg finden, die in ihnen wirkende dionysische Kraft in Maßen zu halten. Das ist beiden zeitweise gut gelungen, im Rückblick auf die letzten Jahrhunderte ist jedoch zu fragen, was dazu geführt hat, dass diese Fähigkeit allmählich verloren ging.

Die Psychopathologie wandelt sich seit dem 20. Jahrhundert in eine Lehre, wie der Mensch an den von ihm geschaffenen und zunehmend wieder entleerten Symbolen krank wird. Geistesstörungen werden heute weitgehend dadurch beschrieben, wie Menschen die Orientierung innerhalb der von ihnen selbst geschaffenen Symbole verlieren. Die Menschen drohen nicht mehr auf die von früher bekannte Weise in Traum oder Rausch den Halt zu verlieren, sondern an ihren eigenen Symbolen irre zu werden.

Symbole sind ein Ärgernis für die Vernunft. Das kann - zum Beispiel beim Religionsphilosophen Klaus Heinrich (arbeiten mit ödipus, S. 256) - zur Hoffnung führen, ganz den Umgang mit Symbolen aufzugeben und nur noch Symptome zu beschreiben, die anzeigen, wie die Natur, der Körper, die Krankheit von sich aus sprechen. Das ist die Hoffnung, in einen Zustand zurückzukehren, bevor das Dionysische mithilfe der Symbolisierung integriert werden mußte. Diese Sorge ist zusätzlich begründet, seit die Wissenschaft und das Arbeiten mit Symbolen von Griechenland auf andere Länder wie Deutschland übergesprungen ist, bei denen es keine ähnlich ausgeprägte apollinische Tradition gab. Das führt zur Frage, wie Nietzsche das Griechische und Germanische unterschieden hat. Von da aus ist der Umgang mit Symbolen im Nationalsozialismus neu zu verstehen und eine Kritik an der Interpretation durch Paul de Man zu entwickeln.

Verhältnis des Apollinischen und Dionysischen bei Griechen und Germanen

Wagners 1865 uraufgeführte Oper Tristan und Isolde war für Nietzsche ein Schlüsselerlebnis. Hier droht die dionysische Musik alle Grenzen zu überschreiten, die in Griechenland durch das Apollinische gesichert waren. Es gehört für ihn auf eine noch zu erklärende Weise zusammen, dass der Siegeszug einer solchen Musik einhergeht mit den Erfolgen der Wissenschaft im 19. Jahrhundert.

Nietzsche deutet das in seinem (dem neunzehnten) Jahrhundert durchbrechende Übergewicht des Dionysischen aus einer deutschen Eigenart, der erst jetzt in der Zeit nach der Französischen Revolution alle Wege geöffnet waren. Das Deutsche und das Germanische werden bei Nietzsche synonym gebraucht. Beim Germanischen kommt für Nietzsche zweierlei zusammen: Eine Bevorzugung des Dionysischen gegenüber dem Apollinischen und eine düstere nordische Grundstimmung. (Auch diese Vorarbeiten wurden nicht oder nur unvollständig in den endgültigen Text der Geburt der Tragödie übernommen.)

»Völlige Verkehrung des Verhältnisses zwischen Dionysisch und Apollinisch. Das Apollinische ist das uns schwer verständliche. Wir müssen das Bild uns interpretiren, zum Mythus. Ursprünglich, d. h. in den Anfängen der Oper, kennt man ebensowenig das Dionysische. Zuerst sind beide Elemente gar nicht vorhanden. Die germanische Begabung, die zuerst in Luther, dann wieder in der deutschen Musik ans Licht kam, hat uns wieder mit dem Dionysischen vertraut gemacht: es ist das bei weitem Übermächtige, auch die Weisheit des Dionysischen ist uns die vertrautere Form. Wir sind ganz unfähig, zum Naiven zu kommen und mit Hülfe des Apollinischen. Wohl aber können wir die Welt uns rein dionysisch auslegen und die Erscheinungswelt uns durch Musik deuten. Wir bekommen so wenigstens wieder die künstlerische Weltbetrachtung, den Mythus. Dabei bemerken wir, wie die Oper, als die Form des romanischen unkünstlerischen Menschen, durch die germanische Tendenz unendlich vertieft und zur Kunst emporgehoben wird.« (Fragmente 1871 9[10], Heft 1871)

Zum Germanischen gehört nicht nur das Übergewicht des Dionysischen, sondern auch sein Pessimismus. Dessen Symbol ist für Nietzsche Dürers Ritter, Tod und Teufel.

Ritter Tod und Teufel

Albrecht Dürer Ritter, Tod und Teufel;
Urheber: Von Albrecht Dürer - Unbekannt, Gemeinfrei, Link

»Der germanische Pessimismus - dabei starre Moralisten, Schopenhauer und kategorischer Imperativ!
Wir thun unsre Pflicht und verwünschen die ungeheure Last der Gegenwart - wir brauchen eine besondere Art der Kunst. Sie hält für uns Pflicht und Dasein zusammen. Dürer's Bild vom Ritter Tod und Teufel als Symbol unsres Daseins.« (Fragmente 1871 9[85], Heft 1871)

Diesen Aspekt stellt Ernst Bertram in seinem Buch Nietzsche, Versuch einer Mythologie (1929, zuerst 1918) heraus. Er zitiert einen Brief von Nietzsche an Rohde vom Oktober 1868: »Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft.« (Bertram, S. 55f)

»Der moralistisch starre Trotz, der im Begriff des germanischen Pessimismus zu liegen scheint; die schopenhauerische Todesromantik wie den Wahrheitsmut schlechthin; der jugendliche Rausch schmerzlich-wissender 'Hoffnungslosigkeit' wie die besondere Art der Kunst, die daraus erwächst; Kantischer Imperativ und Luthersches Doch - und zuletzt noch die beiden Dämonen jener siebenten Einsamkeit, jener verhängnisvoll 'protestantischen' Vereinzelung des Individuums, welchen Luther einmal die tapfer verzichtenden Worten gibt: 'Euer Leben ist eine Ritterschaft ... Jeder muß in eigener Person geharnischt und gerüstet sein, mit dem Teufel und dem Tode zu kämpfen.'« (Bertram, S. 56f)

Den Brief an Rohde zitiert ebenfalls Kurt Hildebrandt in Wagner und Nietzsche, Breslau 1924. Er ergänzt, dass auch Wagner von diesem Dürer-Stich begeistert war.

Die Symbolbildung erfolgte daher in Deutschland ganz anders als in Griechenland. War sie dort eine Möglichkeit des Apollinischen, das Dionysische zu bändigen, so ist sie hier umgekehrt aus einem Grundimpuls des Dionysischen entstanden. Hatte in Griechenland das Apollinische den dionysischen Rausch in das Symbol gebracht, mit dem Symbol dem Dionysischen einen apollinischen Zug gegeben, entstehen hier umgekehrt Symbole, die das Dionysische gegen das Apollinische in Trotz und Panzer aufnahmeunwillig machen. Das Symbol gilt gegenüber Bildern und Worten als etwas Tiefgründigeres, zu dem nur die Deutschen (Germanen) Zugang haben. Die Tiefe des Nordischen wird in seinem intuitiven Verständnis des Symbols gesehen, das sich der Vernunft entzieht, diese unterläuft, und für alle anderen vernunftorientierten Völker und Menschen unverständlich bleiben muss. Hatten Kulturwissenschaftler wie Kurt Hildebrandt aus dem George-Kreis und Bertram, ein enger Freund von Thomas Mann in dessen Jugendzeit, in den 1920ern den Boden vorbereitet, war es nur noch ein kleiner Schritt, bis Alfred Baeumler 1933 bei seiner Antrittsvorlesung in Berlin alles auf den Punkt brachte. Es war nur konsequent, dass diese Rede zugleich der Aufruf der ersten Bücherverbrennung war, mit der symbolisch die Worte vernichtet werden sollten.

»Es ist einfach nicht möglich gewesen, über das Wort hinweg zum Verständnis des Nationalsozialismus zu gelangen, denn unsere Zeit ist eine Zeit der Entmächtigung des Wortes. Alle Vorträge und Aussprachen konnten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verständigungsmöglichkeiten durch das Wort immer geringer geworden waren. Der Verfall der sprachlichen Ausdrucksformen, der so oft beklagt wurde, ist nur ein Symptom. Diesen Verfall kann man nicht durch Verschärfung der Bestimmungen für den deutschen Aufsatz aufhalten. Vielmehr muß das Wort neu geboren werden. Aus den Symbolen, in denen wir uns verstehen, wird das dichterische und das philosophische Wort neu hervorgehen, in dem wir uns dann geistig auf eine neue Art, zarter, differenzierter, mannigfaltiger wieder verstehen werden.« (Baeumler, Antrittsvorlesung am 10.5.1933, Männerbund und Wissenschaft, S. 133)

»Dieses Symbol bringt eine Scheidung, es setzt, was Recht und Unrecht, was wahr und unwahr ist. Das Symbol begrenzt, es schließt aus, es ist ein Symbol nur für diejenigen, die es aus dem Grunde verstehen, und die es mit Begeisterung erfüllt. Das ist unser Begriff von Humanität: Humanität ist da, wo Menschen an ein Symbol glauben und sich einsetzen, wo ein Symbol begeistert und fortreißt zu Gestaltungen und Taten.« (ebd., S. 135)

Paul de Man greift 1979 in Allegorie des Lesens an zentraler Stelle diese Frage auf. Er zitiert allerdings aus Nietzsches Heft von 1871 ein Fragment, in dem vom Germanischen nicht die Rede ist, so dass der Zusammenhang unklar bleibt:

»Das Dionysische wurde durch das Bild erklärt. Jetzt wird das Bild durch das Dionysische erklärt. Also völlig umgekehrtes Verhältniß. Wie ist das möglich?- Wenn das Bild doch ein Gleichniß des Dionysischen sein kann?- Die Alten suchten das Dionysische durch das Gleichniß des Bildes zu fassen. Wir setzen das dionysische Verständniß voraus und suchen das Bildgleichniß zu fassen. Wir und sie vergleichen: ihnen lag an dem Gleichnißartigen des Bildes: uns am Allgemein-Dionysischen. Ihnen war die Bilderwelt das an sich Klare, uns ist es das Dionysische.« (Fragmente 1871 9[92], Heft 1871)

Mit »wir« und »sie« sind die Deutschen und die Griechen gemeint: Den Griechen standen das Apollinische, die Bilder näher, und mit ihnen erklärten sie sich das Dionysische. Sie führten ausgehend vom Apollinischen das Symbol in das Dionysische ein. Den Deutschen steht das Dionysische näher, und von dort versuchen sie die Bilder (und die Symbole) zu verstehen.

Während Nietzsche die Unterschiede in Griechenland und Deutschland, bei den Alten und in der Moderne verstehen wollte, interpretiert ihn de Man nun so, dies Zitat zeige, »daß das gesamte Wertsystem, das in der Geburt der Tragödie am Werk ist, willkürlich umgekehrt werden kann« (de Man, S. 161). Daraus schließt er: »Das dionysische Vokabular wird nur gebraucht, um das Apollinische, das es dekonstruiert, einem verblendeten Publikum verständlicher zu machen.« (de Man, S. 161). Das widerspricht dem Gedankengang von Nietzsche völlig. Nietzsche wollte nicht das Apollinische dekonstruieren und dafür Worte wählen, die einem Publikum besser verständlich sind, dem das Dionysische näher steht. Er wollte verstehen, warum in Deutschland das Dionysische in ganz anderer Weise dominieren konnte als in Griechenland und daher das Symbol hier eine andere Bedeutung bekam. Das Apollinische und Dionysische können keineswegs beliebig ausgetauscht werden, sondern es hat bei den Deutschen und Griechen eine entgegengesetzte Bedeutung. Gründe dafür nennt Nietzsche nicht. Es kann höchstens vermutet werden, dass das Deutsche dem Indischen verwandter ist und daher für Nietzsche gegenüber dem Griechischen ein anderes Beispiel für das barbarische Dionysische ist.

Für de Man ist dieses Nietzsche-Zitat neben dem Zitat über den Metaphern-Charakter der Wahrheit (s.o.) der entscheidende Nachweis, dass bei Nietzsche allem die Rhetorik zugrunde liegt, hier die rhetorische Figur des Chiasmus (die Überkreuzung des Apollinischen und Dionysischen). Mit diesem Nachweis will er seine These bei Nietzsche absichern, dass Sprache grundsätzlich rhetorisch (figurativ) und daher unentscheidbar ist. Das entspricht jedoch nicht Nietzsche, sondern der These von Baeumler über die Entmächtigung der Sprache, die de Man in den 1970ern in den Sprachcode des Dekonstruktivismus gebracht hat. Mit seiner Lehre der Dekonstruktion liefert de Man lediglich eine neue, zeitgemäße Version der nationalsozialistischen Philosophie, die auf den germanischen Pessimismus zurückgeht, vor dem Nietzsche warnen wollte.

Hestia und die Maße der Natur

Im Gegensatz zum Deutschen schätzt Nietzsche an der griechischen Kultur ihre Lebensfreude und Helligkeit. Die von Dionysos ausgehende Verstörung geht jedoch viel weiter als es in Geburt der Tragödie den Anschein hat. Er selbst konnte sich ihr nie entziehen. Dionysos wurde in den Olymp aufgenommen. Um seine Wahrheit zu bändigen, wurde sie in Symbole gebracht. Aber es geschah noch weit mehr. Mit Dionysos sind verheerende Folgen verbunden, an die sich bis heute kaum eine Philosophie heranwagt.

(1) Seit Dionysos werden der Wein und mit ihm der Alkohol wie ein Sakrament verherrlicht, von den Anhängern des Dionysos über das Christentum bis zu den modernen Atheisten, die bei aller Ablehnung der Götter doch an einem Bild des sinnlichen Lebens festhalten, für das bis heute symbolisch der Wein steht. Das war keineswegs selbstverständlich. Ursprünglich wurde der Wein sowohl bei den Griechen (Deukalion) wie bei den Hebräern (Noah) als Betäubungsmittel angesehen, um den traumatischen Schock nach der Sintflut aushalten zu können. Diese Sucht ließ den Menschen nicht mehr los. Er steht insofern noch immer unter dem Trauma der Sintflut. Symbol des verlorenen Goldenen Zeitalters sind dagegen Milch und Honig. Nietzsche spricht sich konsequent in seiner Umwertung aller Werte im Anti-Christ und Ecce homo gegen den Alkoholismus aus, jedoch ohne Bezug auf Dionysos zu nehmen.

(2) Dionysos verwirrte die Liebesverhältnisse von Mann und Frau. Zuerst entzauberte er Kirke, die ursprüngliche Göttin der Liebe. Seither gilt Kirke als Bedrohung der Männer, die aus der Liebe keine Kraft mehr für ihre schöpferischen Möglichkeiten gewinnen können, sondern sich lächerlich verhalten, in Schweine verwandeln und dies der zur bösen Göttin gewordenen Kirke vorwerfen. - Dann drängte er sich zwischen Theseus und Ariadne, einer Nichte von Kirke. Kaum hatte sie Theseus geholfen, die Kreter vom Fluch des Labyrinth des Minotaurus zu befreien, sieht sich das menschliche Denken verfangen in innere labyrinthische Irrgänge. Hat nun Theseus Ariadne wegen einer neuen Liebe auf Naxos sitzen lassen und war also unfähig, auf ihre Liebe einzugehen, oder hat sie ihn verlassen, weil sie sich auf Naxos Dionysos zuwenden und von ihm ein Kind empfangen mußte? Die vielen, nahezu gegensätzlichen Varianten, mit denen ihr Liebesunglück erzählt und gedeutet wird, ist Zeichen der labyrinthischen Gänge, in die sich das menschliche Denken und Lieben verfängt und keinen Ausweg mehr findet. Nietzsche meinte sich selbst, als er schrieb: »Ein labyrinthischer Mensch sucht niemals die Wahrheit, sondern immer nur seine Ariadne - was er uns auch sagen möge.« (Fragmente 1882 4[55], Heft November 1882 - Februar 1883). Er sucht die Ariadne, die ihm von Dionysos genommen wurde. Nietzsches Werk wird durchzogen von verschiedenen kurzen Szenen, in denen er verzweifelt versucht, Klarheit über das Verhältnis von Dionysos, Theseus und Ariadne zu gewinnen, was ihm nie gelang, da er sich wechselweise mit allen dreien identifizierte, bis er sich schließlich in seinen Wahnsinnsbriefen zugleich als den Gekreuzigten und als Dionysos bezeichnete.

(3) Und schließlich wurde Orpheus, Schüler oder Sohn des Apollon, von den Mänaden ermordet, als er sich dem dionysischen Treiben entziehen und der aufgeklärteren Sonnenreligion des orientalischen Helios zuwenden wollte, dem Vater von Kirke. Sein Schicksal steht seither wie eine Drohung über der abendländischen Geschichte, was dem geschieht, der wieder aus dem Bann von Dionysos heraustreten möchte. Nietzsche fand zu Orpheus keinen Zugang und behandelt ihn eigenartig kühl in seinen Werken.

Dionysos stürzte den Menschen in eine existenzielle Krise, sich nicht mehr auf der Erde heimisch zu fühlen. »Denn wenn es nicht Dionysos wäre, dem sie die Prozession veranstalten und das Phalloslied singen, so wär's ein ganz schändliches Tun, ist doch Hades eins mit Dionysos, dem sie da toben und Fastnacht feiern!« (Heraklit, Fragment 15, teilweise zitiert bei Girard Satan, S. 155, der Dionysos hier mit dem Satan des Neuen Testaments identifiziert, der Hölle, dem Tod, dem Lynchmord). An diesem Tiefpunkt kann es jedoch zu einem Umschwung kommen, wenn der Mensch zu verstehen beginnt, dass ihm etwas fehlt, und er das Fehlende zu suchen beginnt. Für das Fehlende steht bei den Griechen die Göttin des Herdfeuers, Hestia, die nicht mehr auf dem Olymp anzutreffen war seit Dionysos sich dort aufhielt. Der Olymp konnte Dionysos nicht integrieren, wie Nietzsche in seinem großen Optimismus in der Geburt der Tragödie annimmt, sondern sein inneres Gleichgewicht wurde durch ihn erschüttert. Was in apollinischer Absicht gut ausbalanciert werden sollte, geriet auseinander.

Nietzsche nimmt das nicht wahr und erwähnt Hestia nirgends. Erst als in Deutschland binnen weniger Jahrzehnte seine schlimmsten Befürchtungen weit übertroffen wurden, hat Heidegger auf eine geradezu spiegelverkehrte Weise Hestia wiederentdeckt. Im Sommersemester 1942 hielt er eine Vorlesung Hölderlins Hymne ‘Ister’. Nach dem Kriegseintritt der USA Ende 1941 sieht er den Siegeszug des Nationalsozialismus bedroht und wirft Amerika vor, Europa und mit ihm die »Heimat«, den »Anfang des Abendländischen« vernichten zu wollen (Heidegger, Ister-Vorlesung, S. 68). Extremer konnte sich der Geist nicht verirren, wenn ausgerechnet das von Hitler in den Krieg geführte Deutschland als Verteidiger der Heimat und des Abendlands erscheint. Ohne es direkt auszusprechen, sieht Heidegger mit der 1942 absehbaren Niederlage Deutschlands sich und sein Land in der Position von Antigone, die im Aufbegehren gegen König Kreon den eigenen Tod in Kauf nimmt.

Am Beginn des 2. Aktes warnt in der Tragödie von Sophokles der Chor, »nichts (ist) ungeheuerer (deinon) als der Mensch«. Weil der Mensch die Natur verletzt, verstößt sie ihn. Heidegger übersetzt: »Nicht werde dem Herde (hestia) ein Trauter mir der, nicht auch teile mit mir sein Wähnen mein Wissen, der dieses führt ins Werk« (Heidegger, ebd., S. 115).

Wer anläßlich einer Vorlesung im Jahr 1942 vermuten würde, Heidegger könnte bei einer aktuellen Deutung der Zeile »nichts (ist) ungeheuerer als der Mensch« an die von Deutschland begangenen Verbrechen denken, täuscht sich. Wer im Aufbegehren von Antigone gegen die staatliche Unrechtsordnung einen Aufruf zum verzweifelten Widerstand gegen den NS-Staat sehen könnte, dem wurde umgekehrt entgegengehalten, dass sich das von Hitler geführte Deutschland seinerseits in der Position von Antigone sah im Kampf gegen die aus ihrer Sicht Unrechtsordnung der westlichen Demokratien. Viele überzeugte Nationalsozialisten haben sich in diesem Sinne mit Antigone identifiziert und rechtfertigten sich, sie würden gegen die vom Westen verkörperten staatlichen Gesetze die Gesetze der mit nordischer Mystik gedachten Religion vertreten, und sie würden die höheren Gesetze des Todes wahren gegen die Verkommenheit der modernen bürgerlichen Ordnung. Doch Heidegger ging nicht diesen direkten Weg, der ihm zu kurz gedacht scheint.

»Wir müssen ... über Totenkult und Blutsverbundenheit hinausdenken. ... Von hier aus wird deutlich, daß das Gegenspiel dieser Tragödie nicht spielt in dem Gegensatz zwischen 'Staat' auf der einen und 'Religion' auf der anderen Seite. ... Das Gegenspiel spielt zwischen dem Unheimischsein im Sinne des ausweglosen Umtriebes im Seienden und dem Unheimischsein als dem Heimischwerden aus der Zugehörigkeit zum Sein.« (Heidegger, ebd., S. 147)

Heidegger hüllt sich in eine fast unverständliche Sprache, doch im Zusammenhang mit seinen anderen Schriften besteht für mich kein Zweifel: Mit dem »Unheimischsein im Sinne des ausweglosen Umtriebes im Seienden« ist die westliche Zivilisation gemeint, für die bei Heidegger die Kriegsgegner Deutschlands wie Frankreich und Amerika stehen. Dort haben sich eine oberflächliche Öffentlichkeit und leere Betriebsamkeit, die »Machenschaften« von Technikgläubigkeit, Beschränkung auf das Rechenhafte, Begeisterung am Riesenhaften durchgesetzt, völlig blind sich selbst gegenüber. Demgegenüber hat sich Antigone außerhalb dieser Welt gestellt, ist dadurch isoliert und insofern ebenfalls unheimisch, aber ihr gelingt das »Heimischwerden aus der Zugehörigkeit zum Sein«.

Denn während diejenigen wie König Kreon und alle, die seinen Gesetzen folgen, vom Herd verstoßen werden, nimmt Antigone das Unheimischsein des Menschen auf sich und findet gerade dadurch zum Herd zurück, von dem die anderen verbannt sind. In ihrem ersten Dialog mit ihrer Schwester Ismene sagt sie, dass sie bereit ist, »ins Eigene aufzunehmen das Unheimliche (deinon), das jetzt und hier erscheint« (in der Übersetzung von Heidegger, ebd., S. 127).

Die Begriffe Sein und Seiendes dürfen nicht täuschen. Heidegger legt in einer weit ausholenden Passage aus, was Herd (Hestia) für ihn bedeutet. Er kommt zum Ergebnis: »Das Sein ist der Herd« (Heidegger, ebd., S. 140). Antigone ist zwar von allem ausgeschlossen, was das Seiende der bürgerlichen Ordnung zu bieten hat. Sie folgt den ihr heiligen Gesetzen, obwohl darauf die Todesstrafe steht. Sie erleidet den Tod, aber sie ist im Gegensatz zu allen anderen dem Herd nahe und damit dem Sein.

In dieser Lage sieht Heidegger Deutschland. Das ist am äußersten Punkt der von Nietzsche befürchteten Verfehlung gedacht. Der Gegenlauf (enantiodromia) von Feuer und Dunkel, Grenze und Unbegrenztem, Maß und Übermaß, Apollon und Dionysos, den Gesetzen der Erde und dem kalkulablen Gesetz (Hölderlin) ist völlig einseitig geworden und dadurch verlöscht. Heidegger versteht es als »Gegenspiel«, in dem eine Entscheidung gegen das Seiende und für das Sein getroffen werden muß. Das treibt ihn - um seinen eigenen Ausdruck aufzunehmen - zum Verfallen-Sein an das Übermaß und läßt ihn zum Anwalt der nationalsozialistischen Ordnung werden, die alles, was Heidegger im politischen und »völkischen« Raum für das »Seiende« erklärt, bis zur restlosen Vernichtung schlagen will. Aber er hat angesichts dieser Situation die richtige Frage gestellt, wenn er sie auch radikal falsch beantwortet hat. Er hat der Deutung von Sophokles und Hölderlin neue Wege geöffnet, die sich allerdings vom Geist Heideggers losmachen müssen. Vieles bleibt unausgesprochen und kann nur intuitiv erschlossen werden. Ich bin überzeugt, dass Heidegger den Namen ‘Ister’, den Hölderlin der Donau gibt, ebenfalls als Hestia versteht. - Mit dieser Vorlesung ist Hestia wieder in die philosophische Diskussion zurückgekehrt.

Jetzt kann wieder erinnert werden, dass Hestia keineswegs ganz verschwunden war, als sie nicht mehr auf den Olymp ging. Als die Ideen des Orpheus, der von den Anhängerinnen des Dionysos gemordet worden war, über die Orphiker in die Lehren der Pythagoreer einflossen, wurde Hestia dort zum Symbol in der frühen Naturphilosophie von Philolaos, einem Pythagoreer.

»Philolaos sagt, es gebe in der Mitte um das Zentrum ein Feuer, das er Herd (hestia) des Weltalls nennt und Haus des Zeus und Mutter der Götter und Altar und Zusammenhalt (synoche) und Maß der Natur. Das Firmament sei ein zweites Feuer; es liege am höchsten. Nach der Natur sei die Mitte das erste und es kreisten zehn göttliche Körper um sie herum: der Himmel, die fünf Planeten, nach diesen die Sonne, nach ihr der Mond, unter diesem die Erde, unter ihr die Gegen-Erde. Nach all diesen das Feuer, welches um das Zentrum die Stelle des Herdes innehat.« (Diels Kranz Fragmente der Vorsokratiker, 44 A 16)

Philolaos

Weltbild des Philolaos. Das Weltall wird durch ein Zentralfeuer (Feu central) erhellt. Dies ist von der Erde (Terre) aus jedoch verdeckt durch die Gegenerde (Antiterre). Das Licht des Zentralfeuers ist nur indirekt über die Sonne zu sehen (Miroir Soleil). Hestia fehlt, aber ihr Licht und ihre Wärme ermöglichen indirekt das Leben auf der Erde. Niemand wird heute versuchen, dies - oder vergleichbare andere Entwürfe der Antike - als Planetenmodell zu übernehmen. Es ist jedoch ein Symbol für andere Prinzipien der Naturwissenschaft, zu denen auch das Unsichtbare und Dunkle gehören. Es zeigt eine Physik, die sich der Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit bewußt ist. Quelle

Heidegger zitiert ein kürzeres Fragment und deutet viel zu unbestimmt: »Der Herd ist demnach die Mitte des Seienden, auf die alles Seiende, nämlich weil es und sofern es Seiendes ist, anfänglich bezogen bleibt.« (Heidegger, ebd., S. 140)

Bei Philolaos hat Hestia eine viel weiter gehende und genauere symbolische Bedeutung für die Naturphilosophie. Sie steht im Ausgleich mit dem anderen Begriff synoche (Zusammenhalt, Continuum), der wenig später der grundlegende Begriff der Physik von Aristoteles wurde.

Nietzsche traf nur eine Seite, als er beschrieb, wie die Griechen die dionysische Wahrheit symbolisierten. Auf der anderen Seite vermochten die Pythagoreer Hestia als grundlegenden Begriff in ihre Lehren aufzunehmen. Von ihnen ist zu wenig überliefert, um das im Einzelnen nachvollziehen zu können. Doch wird dieser Gedanke helfen, die Lehren der Neoplatoniker zu verstehen, die dem Wechselspiel des Mittelpunktes und der sie umgebenden Kreise eine neue Bedeutung zu geben vermochten (archimedische Spirale).

Wenn Hestia (der Herd) als Mittelpunkt des Alls gesehen wird, hat hier dies Symbol ausdrücklich die Bedeutung eines »Maßes der Natur« bekommen.

Es bleibt die Frage, warum sich die Naturwissenschaft nicht oder nur kaum bemerkt in dieser Weise entwickeln konnte, und warum sogar Nietzsche sie lange missverstand.

Jesus – »Symbolik par excellence«

Erst 1888 hat Nietzsche seine Einstellung zur Wissenschaft grundsätzlich geändert. Auf einmal war ihm offenbar klar geworden, dass seine Kritik an der Wissenschaft letztlich auf die Angst der Priester vor der Wissenschaft zurückging, und er sich also vom Denken der Priester doch nicht radikal getrennt hatte, wenn er deren Kritik an der Wissenschaft übernommen hatte. Nun spricht er »von der Höllenangst Gottes vor der  Wissenschaft« (Nietzsche, Anti-Christ, Kap. 48), womit er den von den Priestern entworfenen Gott meint. Dessen Angst beruht letztlich darauf, »die Wissenschaft macht  gottgleich, - es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich wird!« (ebd.). In einem sehr polemischen Text entwirft Nietzsche eine groteske Übertreibung, wie Gott dem Menschen erst die Tiere, das Weib und mit ihr die Wissenschaft gegeben hat, dann aber die Menschen aus dem Paradies jagte und mit Not und Krankheit schlug, sie durch die Sprachverwirrung nach dem Turmbau von Babel in mörderischen Kriegen einander vernichten ließ und schließlich - als alles nichts half - mit der Sintflut ertränkte. Das alles nur um zu vermeiden, dass sie auf dem Weg der Erkenntnis und Wissenschaft gottgleich werden.

Angst vor gottgleichen Menschen haben aber nicht nur dieser rächende Gott und die Priester, die seine Geschichte geschrieben haben, sondern alle Menschen, die unter Tyrannen zu leiden haben, die sich für gottgleich erklären. Die Priester können - wie unter den alten Griechen - durch einen Ausgleich der verschiedenen Götter diese Angst lindern, sie können sie aber auch für ihre eigenen Ziele oder im Auftrag der Tyrannen einsetzen. Die Wissenschaft kann sich erst frei entfalten, wenn die Angst vor dem überwunden wird, was zu geschehen droht, wenn die Menschen gottgleich werden. Das scheint mir die entscheidende Einsicht, die Nietzsche in seinem letzten philosophischen Werk gewonnen hat, aber nicht mehr fortführen konnte. Dafür muss ein neues Verständnis gewonnen werden, was es heißt, »gottgleich« zu werden. Das hat Jesus symbolisch mit seinem Leben gezeigt. Zu dieser überraschenden Erkenntnis gelangt Nietzsche in einer letzten Umwertung seiner eigenen bis dahin vertretenen Werte. Die Kapitel 32-35 des Anti-Christ entwerfen eine in seinem Werk völlig neue Sicht auf Jesus. Mit Jesus ist »jedwedes Distanz-Verhältnis zwischen Gott und Mensch abgeschafft« (Nietzsche, Anti-Christ, Kap. 33), denn Jesus hat mit seinem Leben, mit seiner  »Praktik« gezeigt, was Gottgleichheit bedeutet.

Jesu Leben war symbolisch, da es zum einen für alle Menschen gelten kann und über alle Unterschiede unter ihnen hinwegsieht, zugleich aber jeden einzelnen Menschen in seiner Besonderheit und seiner eigenen Tradition und Religiosität anspricht. Jesus stellte sich – ganz im Gegensatz zu den Christen, die sich später auf ihn beriefen –, nicht fundamental gegen die Tradition der Menschen seiner Umgebung, sondern griff sie auf, wollte sie verstehen und ihnen einen neuen Sinn verleihen, statt sie zu bekämpfen und zu erniedrigen. Die großen Gegenüberstellungen kamen erst von Paulus.

»Dieser 'frohe Botschafter' starb wie er lebte, wie er lehrte -  nicht  um 'die Menschen zu erlösen', sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die  Praktik  ist es, welche er der Menschheit hinterliess: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn, - sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äusserste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus... Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses thun ... Die Worte zum Schächer am Kreuz enthalten das ganze Evangelium. 'Das ist wahrlich ein göttlicher Mensch gewesen, ein Kind Gottes' sagt der Schächer. 'Wenn du dies fühlst - anwortet der Erlöser – so bist du im Paradiese, so bist auch du ein Kind Gottes ...' Nicht sich wehren,  nicht  zürnen,  nicht  verantwortlich-machen ... Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, - ihn  lieben...« (Nietzsche, Anti-Christ, Kap. 35)

Nietzsche ist überzeugt, dass Jesus immer aus der jeweiligen vorgefundenen Kultur heraus gesprochen und gelebt hätte:

»Unter Indern würde er sich der Sankhyam-Begriffe, unter Chinesen der des Laotse bedient haben - und keinen Unterschied dabei fühlen.« (Nietzsche, Anti-Christ, Kap. 33) Seine Praktik war »Symbolik par excellence«, denn sie »steht ausserhalb aller Religion, aller Cult-Begriffe, aller Historie, aller Naturwissenschaft, aller Welt-Erfahrung, aller Kenntnisse, aller Politik, aller Psychologie, aller Bücher, aller Kunst« (Nietzsche, Anti-Christ, Kap. 32).

Wie anders hat sich später das Christentum verhalten, als es im Zuge seiner Missionierungen alle vorgefundenen heiligen Stätten geschleift, die überlieferten religiösen Gefühle beleidigt und sie durch eine abstrakte Staatsreligion ersetzt hat. Die Missionserfolge waren nur möglich, weil dennoch einige Elemente der ursprünglichen Lehre Jesu erhalten blieben. Das reichte aus, um religiös fühlenden Menschen Kraft zu geben. Sie zogen sich in ihrem Glauben an Jesus zurück und fanden Stärkung für die Mühen des Lebens, fanden aber keinen rechten Platz in der Kirche. So sind im Ganzen die religiösen Gefühle tief verstört worden. Insofern hat das Christentum durchaus vergleichbar gewirkt wie der Einbruch des Dionysischen. Nietzsche konnte erst am Ende seiner philosophischen Schriften zu einer neuen Einsicht über das Leben Jesu kommen, nachdem er zuvor über Jahrzehnte versucht hatte, die Kritik am Christentum bis ins Innerste zu verstehen und in Worte zu fassen.

Im Ergebnis sieht Nietzsche nicht nur das Leben Jesus symbolisch, sondern damit wurde der Symbolik eine völlig neue Bedeutung gegeben. »Symbolik par excellence«: Das Übermaß des Symbols ist nicht mehr bedrohlich, sondern gibt Kraft. Symbolik wird weder wie bei Dionysos bis ins Ungeheure aufgeladen, die alle vorhandenen Kräfte auf sich zieht und an anderer Stelle entleert und erschöpft zurückläßt, noch wie vom Christentum als abstraktes Symbol gegen alle Überlieferungen gestellt - alle schützende Geborgenheit wegreißend und sozialen Bande auflösend, als sei es eine eigene Schöpfung aus dem Nichts, das jedes Leben zerstört. Niemand soll mehr vor dem Übermaß des Symbols Angst haben, sondern das Übermaß des Symbols läßt selbst am ausweglos erscheinenden Geschehen eine verborgene Seite erkennen. Es geht über das hinaus, was ein Mensch erfüllen kann, ohne ihn an seiner Ohnmacht verzweifeln zu lassen. Ein neues Verständnis der Symbolisierung ist die entscheidende Voraussetzung, um der Wissenschaft den Weg zu öffnen.

In Griechenland war das Dionysische dank der bereits entwickelten Fähigkeit, auf die Natur hören zu können, immerhin in Grundzügen verwandelt worden. Aus diesem Geist konnte die Wissenschaft entstehen. Als das Christentum mit seiner Art der Missionierung jedes Verständnis und jedes Gefühl für die Heiligkeit der Natur brechen wollte, hat das notwendigerweise diese Grundlagen der Wissenschaft unterminiert. Die Wissenschaft im Sinne des Christentums hört nicht auf die Natur, findet dort nichts Heiliges und Symbolisches, leugnet, dass aus der Natur heraus eine Bewegung zur Wissenschaft und zum Glauben kommt, sieht überall nur heidnische Götter und primitiven Polytheismus, und verfällt darüber in letzter Konsequenz dem Aberglauben, der jetzt allerorten dem Christentum nachzufolgen droht. Auch in dieser Beziehung kann der Nationalsozialismus eine wichtige Lehre sein, wenn sie nur verstanden wird.

Nachdem Nietzsche viele Jahre mit äußerster Polemik über das Christentum hergezogen war, hat er seine Meinung erst in dem Moment geändert, als er offenbar einsah, dass er im Grunde nur mit vertauschten Rollen nun seinerseits das Christentum in ähnlicher Weise frontal angriff, wie zuvor das Christentum das Heidentum und alle anderen Religionen attackiert hatte. Als er das verstanden hat, vermochte er innerhalb der christlichen Lehre als deren Untergrund den Sinn des Leben Jesu zu erkennen, auf den er sich jetzt positiv bezog. Statt weiter den Christen nachzuweisen, dass ihr Handeln und Predigen verlogen ist, suchte er jetzt zu verstehen, welche wahren religiösen Gefühle trotz allem die Christen bewegen. Mit einem Wort: Er wollte jetzt den Christen so gegenübertreten, wie seiner Meinung nach Jesus den Menschen seiner Umgebung gegenübergetreten ist.

Diese Umkehrung ist ihm allerdings auch in den letzten Werken Anti-Christ und Ecce Homo nur sehr unvollständig gelungen. Zu groß war seine persönliche Wut auf die Vertreter des Christentums und zu viele Rachegefühle sind noch gegenwärtig, wenn er auch in diesen letzten Werken »mit dem Hammer philosophiert«. Daher war es im Gegenzug einfach, ihn weiter als den nahezu psychopathischen Verächter der christlichen Werte darzustellen.

Die entscheidende Differenz zwischen Jesus und den Christen sah Nietzsche in der Frage des Opfers. Als Jesus am Kreuz hingerichtet worden war, konnte daraus eine Welle des Hasses gegen alle Andersgläubigen entstehen, ganz das Gegenteil der von ihm vertretenen »Frohen Botschaft«.

»Und von nun an tauchte ein absurdes Problem auf: 'Wie  konnte  Gott das zulassen!' Darauf fand die gestörte Vernunft der kleinen Gemeinschaft eine geradezu schrecklich absurde Antwort: Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als  Opfer. Wie war es mit Einem Male zu Ende mit dem Evangelium! Das  Schuldopfer  und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des  Unschuldigen  für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidenthum! - Jesus hatte ja den Begriff 'Schuld' selbst abgeschafft, - er hat jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet, er  lebte  diese Einheit vom Gott als Mensch als  seine  'frohe Botschaft' ...« (Nietzsche, Anti-Christ, Kap. 41)

Nietzsche hatte sich bis zur Niederschrift des Anti-Christ von dieser Opfer- und ihr nachfolgend Rache-Lehre ebenso blenden lassen wie von der Wissenschafts-Kritik der Kirche. Er hatte bis zum Anti-Christ die Opfer-Lehre der Kirche gleichgesetzt mit der Praktik Jesu und noch nicht verstanden, dass Jesus genau das Gegenteil wollte. Er hatte die von der Kirche propagierte Lehre mit Jesu Praktik gleichgesetzt. In den letzten unveröffentlichten Fragmenten, die vor dem Anti-Christ geschrieben wurden, ist das sogar bis ins äußerste Extrem getrieben. Nietzsche musste offenbar bis in diese Extremposition gelangen, um schließlich seine Einsicht radikal ändern zu können.

René Girard trifft genau den heiklen Punkt, wenn er aus den Fragmenten von 1888 zitiert:

»Dionysos gegen den 'Gekreuzigten': da habt ihr den Gegensatz. Es ist  nicht  eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, - nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung ... im anderen Fall gilt das Leiden, der 'Gekreuzigte', als Einwand gegen dieses Leiden, als Formel seiner Verurteilung.« (Nietzsche, Umwertungsheft Frühjahr 1888 14[89], zitiert bei Girard, Satan, S. 215)

Das kann in der Tat nur so verstanden werden, dass Nietzsche für das dionysische Opfer eintritt und dem »Gekreuzigten« vorwirft, er wolle den lebens-notwendigen Zyklus von Opfer und Gründung neuer Ordnungen mithilfe des Opfers absagen. Aber Girard übersieht, dass Nietzsche diesen Gedanken noch innerhalb des gleichen Jahres vollständig geändert hat. Möglicherweise hat sich Nietzsche missverständlich ausgedrückt und meint mit dem »Gekreuzigten« nicht, was Jesus wollte, sondern wie die Christen ihn darstellten. Wie auch immer, der Anti-Christ macht das völlig klar.

Ohne das jetzt weiter auszuführen, kommt Girard im Grunde sogar auf eine Haltung zurück, wie Nietzsche sie vor dem Anti-Christ vertreten hat. In einem großen Teil seines Buches wendet er sich gegen die heute weit verbreitete heuchlerische »Sorge um die Opfer« und argumentiert ganz ähnlich wie Nietzsche in Menschliches Allzumenschliches: Wer diese Sorge vor sich her trägt, will sich selbst darstellen und benutzt für seine eigene Eitelkeit ein weiteres Mal die Opfer, die er braucht, um ihnen gegenüber sein Mitleid vorführen zu können. So berechtigt und zutreffend diese Kritik auch in manchen Situationen sein kann, hat sie dennoch ihrerseits Züge einer Belehrung von oben herab und Verachtung. Es würde ganz anders aussehen, auf diejenigen zu hören, die sich so verhalten, und sie zu verstehen versuchen, um ihnen aus ihrer eigenen Umgebung heraus den Weg für eine Alternative zu zeigen.

Als Nietzsche zu einer neuen Haltung gegenüber Jesus und dem Christentum gefunden hatte, waren zugleich alle Bedenken gegen die Ansätze der aus der Antike überlieferten Wissenschaft verflogen. Jetzt fühlte er sich innerlich frei, nicht mehr nur anzuklagen, sah die Wissenschaft nicht mehr gebunden an eine tragische Figur wie Ödipus, sondern konnte sich auf alles besinnen, was ihn von Anfang an an der antiken Wissenschaft begeistert hatte.

»Alle Voraussetzungen zu einer gelehrten Cultur, alle wissenschaftlichen  Methoden  waren bereits da, man hatte die grosse, die unvergleichliche Kunst, gut zu lesen, bereits festgestellt - diese Voraussetzung zur Tradition der Cultur, zur Einheit der Wissenschaft; die Naturwissenschaft, im Bunde mit Mathematik und Mechanik, war auf dem allerbesten Wege, - der  Thatsachen-Sinn, der letzte und werthvollste aller Sinne, hatte seine Schulen, seine bereits Jahrhunderte alte Tradition!« (Nietzsche, Anti-Christ, Kap. 59)

Wenn in diesem Sinn die von der Antike überlieferten »Voraussetzungen« wieder aufgenommen werden, werden sich auch die Gewichte der in ihr enthaltenen Symbole verändern. Auch das dionysische Übermaß wird nicht einfach negiert werden, sondern es ist in neuem Licht zu sehen. Wie hätten Jesu Leben und Lehren ausgesehen, wenn er in einem dionysischen Umfeld gelebt hätte oder im Umfeld der neuzeitlichen Wissenschaft? So hatte nur Dostojewski zu fragen begonnen, den Nietzsche als Vorbild und Geistesverwandten ansah. Wenn darauf eine Antwort gelingt, wäre das der Anfang einer »fröhlichen Wissenschaft«, die nicht alternativ oder neben der neuzeitlichen Wissenschaft konstruiert, sondern in zahlreichen Umwertungen aus ihr herausgelesen werden muss.

2009 - 2010

Literaturhinweise

Aristoteles: Poetik

Aristoteles: Rhetorik

Aristoteles: Nikomachische Ethik

Alfred Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934

Ernst Bertram: Nietzsche, Versuch einer Mythologie, Berlin 1929

Ludwig Binswanger: Melancholie und Manie, Pfullingen 1960

Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1996

Paul de Man: Allegorie des Lesens, Frankfurt 1988

Diels Kranz: Fragmente der Vorsokratiker

Viktor-Emil von Gebsattel: Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie (1928)
in: ders.: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, Berlin, Göttingen, Heidelberg, 1954

René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, München Wien 2002

Martin Heidegger: Hölderlins Hymne 'Der Ister' (GA 53), Frankfurt 1984

Klaus Heinrich: Arbeiten mit Ödipus, Basel, Frankfurt am Main 1993

Kurt Hildebrandt: Wagner und Nietzsche, Breslau 1924

Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 4. Auflage, Berlin Heidelberg 1946

Karl Jaspers: Nietzsche, Berlin 1947

Lessing, "Eine Duplik", 1778; Projekt Gutenberg

Reinhold Merkelbach: Hestia und Erigone, Stuttgart Leipzig 1996

Eugen Minkowski: Die gelebte Zeit, 2 Bd. Salzburg 1971, 1972

Friedrich Nietzsche: Digitale kritische Gesamtausgabe ( Link )

Erwin Straus: Das Zeiterlebnis in der endogenen Depression und in der psychopathischen Verstimmung (1928)
in: ders.: Psychologie der menschlichen Welt, Berlin, Göttingen, Heidelberg, 1960

Weitere

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