Walter Tydecks

 

Bedingtes Entstehen

– einige philosophische Grundbegriffe des Buddhismus

 

Überarbeitete Version eines Beitrags für das Philosophische Colloquium der Akademie 55plus Darmstadt am 18.9.2017 und den Themenkreis Naturwissenschaft und Technik von 50plus aktiv an der Bergstraße am 25.10.2017 in Bensheim

erschienen in: Helmut Schneider (Hg.): EURASIA – Schriften der Gesellschaft für Asiatische Philosophie, Band I, Hamburg 2019 (Verlag Dr. Kovač), 77-91

Einleitung

Der Anstoß für eine nähere Beschäftigung mit philosophischen Grundbegriffen des Buddhismus kam für mich über die Logik von Spencer-Brown. Dessen Ideen werden in Deutschland vor allem von dem Soziologen Niklas Luhmann (1927-1998) und seinen Schülern sowie im Umfeld des Logikers Matthias Varga von Kibéd (* 1950) vertreten. Varga von Kibéd stellt die Logik von Spencer-Brown in den Kontext systemischer Strukturaufstellungen sowie fernöstlicher Philosophie. In einem Weiterbildungsseminar 2010 (veröffentlicht in YouTube) nannte er den Madhyamaka-Buddhismus (Mittlerer Weg) und dort insbesondere das Gesetz des Bedingten Entstehens (pratitya-samutpada). Er bezieht sich vor allem auf die beiden indischen Philosophen Nagarjuna (2. Jh. n. Chr.) und Vasubandhu (4. Jh. n. Chr.) und dessen drei Prinzipien, die aus seiner Sicht den heutigen radikalen Konstruktivismus etwa von Heinz von Förster (1911-2002) noch unterlaufen. Es ist zu einfach, mit Aristoteles alles auf eine ousia (einer allem anderen unterliegenden Substanz) zurückzuführen oder mit Nagarjuna an allem seine Bedingte Entstehung nachzuweisen, sondern er unterscheidet: (a) das, was erscheint (das Interdependente, dem Bedingten Entstehen Unterworfene), (b) das, wie es im jeweiligen Modell erscheint (das Konstruierte), (c) dasjenige an (a), das in (b) nicht erscheint (unauffindbar ist) und daher eine ewige Bewegung neuer Modelle auslöst (das Erfüllte).

Welche Antworten kann der Buddhismus auf aktuelle Fragen der Philosophie und der Logik geben? Ist der Buddhismus mehr als eine neue Modeströmung mit einem Hauch von Exotik und New Age? Kann er denen eine glaubwürdige Alternative bieten, die sowohl von den christlichen Kirchen enttäuscht sind wie auch unter dem Stress einer digitalisierten und globalisierten Arbeits- und Freizeitwelt leiden?

In Deutschland wurde der Buddhismus lange Zeit vor allem mit Schopenhauer und Hermann Hesse (Siddharta) verbunden. Im Nationalsozialismus wurde das im Buddhismus als Glücksbringer verehrte Zeichen der Swastika (das Hakenkreuz 卐) zum Staats- und Parteiabzeichen und ist seither „verbrannt”, zumal einige führende NS-Ideologen im Buddhismus die frühe Quelle eines arischen Rassismus sehen wollten. Thomas Mann hat auf dies Bild des Buddhismus und nicht zuletzt Hermann Hesse in seiner 1940 im amerikanischen Exil geschriebenen längsten Erzählung Die vertauschten Köpfe recht ironisch Bezug genommen, im Untertitel eine indische Legende. Heute gibt es in Deutschland nach eigenen Angaben ungefähr 600 buddhistische Gruppen und Gemeinschaften und 250.000 aktive Buddhisten, die Hälfte davon eingewanderte Asiaten (Wikipedia, abgerufen am 29.7.2017). Weltweit gab es 2010 fast 500 Mio. Buddhisten, wobei überraschenderweise erwartet wird, dass die Anzahl der Buddhisten bis 2050 stagniert, während Christen, Moslems, Konfessionslose, Hindus und Volksreligionen zunehmen (Pew Research Center The Future of World Religions: Population Growth Projections, 2010-2050, veröffentlicht April 2015; Link).

Wer beginnt, sich mit dem Buddhismus und seiner Philosophie zu beschäftigen, muss sich weit in eine in Westeuropa überwiegend unbekannte Geschichte der indischen Philosophie hineindenken und deren Wandlungen auf ihrem Weg nach Tibet, China und Japan folgen. Westlichem Vorverständnis kommt daher vielleicht die Beschäftigung mit einzelnen Philosophen aus der buddhistischen Tradition am nächsten, die in manchen Zügen den vorsokratischen Philosophen vergleichbar sind. Im Folgenden werden einige Gedanken der indischen Philosophen Nagarjuna und Vasubandhu aus dem 2. und 4. Jahrhundert n. Chr. vorgestellt. Das soll helfen, sie von den zahlreichen Vorurteilen über den Buddhismus zu befreien und vorbereiten auf weitere Beiträge über Buddhismus und Quantentheorie sowie Buddhismus und Relativitätstheorie. Welche Anziehungskraft haben die Ideen des Buddhismus auf Naturwissenschaftler, für die die überlieferten Schöpfungsgeschichten der Antike und des Monotheismus nur noch historische Bedeutung haben und die naturphilosophischen Entwürfe von Kant oder Hegel nicht mehr zeitgemäß sind?

Die logischen Paradoxien nach Nagarjuna

Der historische Buddha (Siddhartha Gautama) lebte um 500 v. Chr. in Nepal und Indien. Das war eine Zeit religiöser Umbrüche und Visionen, die von Karl Jaspers als Achsenzeit bezeichnet wurde. In Griechenland begründete Pythagoras die moderne Wissenschaft, in Palästina entstanden die wesentlichen Teile des Alten Testaments, Zarathustra begründete seine Lehren in Persien und Konfuzius und Laotse wirkten in China. Alle Strömungen trafen sich am Rande des Kaukasus in Georgien und Armenien und traten über die Seidenstraße miteinander in Kontakt. Aus dem Westen kamen hellenistische, jüdische und christliche Ideen, aus dem Osten die Weisheit der Chinesen, Inder und des Orients. Nach dem Tod des historischen Buddha entstanden in seiner Nachfolge verschiedene Schulen und kreuzten sich mit Einflüssen anderer Traditionen. Nagarjuna lebte im 2. Jahrhundert n. Chr. Er war sehr darauf bedacht, unterschiedliche Extreme abzuwehren, die buddhistische Richtung zu konsolidieren und wurde zum Gründer einer neuen Strömung, der Mittleren Lehre, dem Mahayana-Buddhismus. Vermutlich gab es Einflüsse aus dem Hellenismus und Neuplatonismus, die zur gleichen Zeit ihre Blüte erlebten, während die christlich dominierte Philosophie erst in ihren frühen Anfängen stand. Die von Nagarjuna begründete Richtung breitete sich ab dem 9. Jahrhundert nach Tibet aus und wurde dort Grundlage des tibetischen Buddhismus und später des Zen-Buddhismus in Japan. Was im Westen als Buddhismus verstanden wird, ist weitgehend der japanische Zen-Buddhismus, nachdem die buddhistischen Ideen also einmal fast um die Erdkugel gewandert sind. Als Nagarjunas Hauptwerk gelten die Lehrstrophen über die grundlegenden Lehren des Mittleren Weges Mulamadhyamakakarika (im Folgenden zitiert als MMK in der Übersetzung von Weber-Brosamer und Back).

Über das Leben von Nagarjuna ist nur wenig bekannt. Er stammte wie nach ihm Vasubandhu aus der höchsten Kaste der Hindus, den Brahmanen, wuchs in Mittelindien auf und ging nach Südindien. Nach seinem Tod wurde er wie ein Heiliger verehrt, um den sich zahlreiche Legenden rankten, nicht viel anders als die Geschichte von Jesus oder Augustus geschrieben wurde. Nagarjuna zeigt am gewöhnlichen Denken dessen innere Paradoxien und erinnert einen westlichen Leser an den griechischen Philosophen Zenon von Elea (490-430 v. Chr.) und die verschiedenen Schulen des Skeptizismus. Für die Paradoxien des Denkens wählt er ein Beispiel aus dem Alltag: das Gehen und unterscheidet: »(1) Das Gehen, das die begangene Strecke konstituiert, (2) Das Gehen, das den Geher konstituiert, (3) Das Gehen als solches« (Weber-Brosamer, Back, 7).

Es kann kein Gehen geben, wenn es niemanden gibt, der geht, und wenn es keine Strecke gibt, die gegangen werden kann. Es kann keinen Gehenden geben, wenn es nicht das Gehen als Bewegungsform gibt und eine Strecke, die er gehen kann. Es kann keine zu gehende Strecke geben, wenn es niemanden gibt, der sie geht und keine Bewegungsform des Gehens. So sind die drei Begriffe des Gehenden, des Gehens und der zu gehenden Strecke voneinander bedingt. Jede von ihnen ist für sich allein leer. Dies Paradox kann verallgemeinert werden auf alle Wahrnehmungen (Sehender, Gesehenes, das Sehen; Hörender, Gehörtes, das Hören; usf.), aber auch auf elementare mathematische und naturwissenschaftliche Begriffe wie das Zählen und die Zeit. Wer versucht, genau zu definieren, was eine Zahl oder was die Zeit ist, wird in große Schwierigkeiten geraten. Jeder weiß, was damit gemeint ist, aber es entzieht sich einer verständlichen Beschreibung. Mit Nagarjuna gelingt es dagegen verblüffend einfach, hier einen Zugang zu finden: Es kann keine Zahl geben, wenn es niemanden gibt, der zählt und nichts, das gezählt werden kann. Es kann keine Zeit geben, wenn sie sich an keinem unbewegten Hintergrund messen lässt und wenn es keine vergänglichen Dinge gibt, die in der Zeit entstehen, sich ändern und vergehen. Oder aus einer anderen Perspektive: Es kann keine Zeit geben, wenn es keine Seele gibt, die ihren Bewegungsverlauf und ihre Änderungen in der Zeit wahrzunehmen vermag; wenn es keine Veränderungen gibt, die von der Seele wahrgenommen werden können; und wenn die Seele über keinen Speicher (Gedächtnis, Leib) verfügt, in dem sie Erinnerungen, aktuelle Erfahrung und Erwartungen ablegen und miteinander vergleichen kann. – In späteren Beiträgen soll gezeigt werden, dass so zu denken nicht nur eine philosophische Spielerei ist, sondern helfen kann, Klarheit über die Grundlagen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie zu gewinnen.

Was über das Gehen gesagt ist, gilt auch für das Tun: Es gibt keine Tat, wenn es niemanden gibt, der etwas tut (Handelnder, kriya), und wenn es kein Ergebnis (Frucht, karya) der Tat gibt. Es gibt keinen Täter (Handelnden), wenn es keine Taten gibt (nichts zu tun gibt), und der Täter kein Werk (keine Frucht) hinterlässt. Und es gibt keine Frucht, wenn es keinen Keim gibt, aus dem sie hervorgeht, und keinen Täter, der den Wachstumsprozess anstößt und bis zur Reife bringt. Jeder der drei Aspekte ist von den beiden anderen abhängig und für sich betrachtet leer.

Diese Aufteilung in Subjekt, objektive Umgebung und Prozess erinnert nicht zufällig an die Grundregel der Grammatik: Alle Sätzen enthalten Subjekt, Objekt und ein Verb. Auch unvollständige oder bewusst rhetorisch verfremdete Sätze lassen sich auf die Grundform elementarer Sätze zurückführen und darüber verstehen. Einige Interpreten vermuten, dass Nagarjuna bewusst von der Sprache und ihrer elementaren Syntax ausgegangen ist. Wir können nicht anders als in der uns verliehenen Sprache denken, und er hat mit seiner klaren Unterscheidung in Subjekt, Substanz und Prozess lediglich bewusst gemacht, was in der Sprache bereits angelegt ist. Er sucht nicht nach einem Heiligen Text, der uns die Geschichte erzählt, wie wir uns, unser Leben und unsere Umwelt zu verstehen haben, sondern erkennt an der Sprache die tiefsten philosophischen Wahrheiten. Für mich ist es diese kritische Herangehensweise, von der die Faszination des Buddhismus auf die Naturwissenschaften ausgeht. Wer einem Nicht-Naturwissenschaftler erklären will, welche innere Begeisterung einen Naturwissenschaftler bewegt und antreibt, kann das nicht besser als in den von Nagarjuna gewählten Beispielen.

Für Nagarjuna bleibt jeder im unendlichen Kreislauf des Lebens (samsara) gefangen, wenn er einen dieser Aspekte verabsolutiert und als den höchsten Wert seines Lebens ansieht: Sei es der Handelnde selbst, der sich als vollkommenes Subjekt ausbilden will (und sich als großer Staatsmann, Erfinder, Techniker, Denker, Künstler, Sportler, aufopferungsvoll und engagiert Helfender, Priester, asketisch lebender Mönch usf. versteht); sei es die Frucht (das Werk), das er vollenden und der Nachwelt überlassen will, von dessen Größe er begeistert ist und andere begeistern kann, und von dem er sich positive Wirkungen in seinen Wiedergeburten verspricht (das Christentum würde sagen: vor dem Ewigen Gericht); oder sei es das Handeln (die Aktivität), in dessen Vitalität (flow), Erfolgen und Machtausübung der Sinn und die Erfüllung des Lebens gesehen werden.

Viele, die sich dem Buddhismus zuwenden und dort eine Erlösung suchen, bleiben an das traditionelle Verständnis des Handelns verhaftet (klesa, auch Befleckung, Verunreinigung wie Gier, Hass, Neid, Verblendung, Dünkel, falsche Ansichten, Zweifelsucht, Starrheit, Anmaßung, Schamlosigkeit, Rücksichtslosigkeit): Sie wollen etwas für sich tun, ihr Leben intensiver leben und sehen die Beschäftigung mit dem Buddhismus wie ein Vorhaben an, um zum persönlichen Heil zu finden. Dies alles ist nach Nagarjuna für sich genommen nichts als ein vergänglicher Traum.

»So wie ein Meister mit magischer Kraft ein Zaubergebilde schafft, und das Geschaffene dann ein weiteres Zaubergebilde hervorbringt, gerade so erscheint auch der Täter als ein Zaubergebilde, [und] das als Tat Vollzogene ist wie jenes Zaubergebilde, das von einem anderen Zaubergebilde geschaffen wurde. Anhaftungen, Taten, Körper, Täter und Früchte: Sie erscheinen als Fata Morgana, als Luftspiegelung, als Traumgebilde.« (MMK, Vers 17.31-33)

Seine Gegner warfen ihm vor, in letzter Konsequenz auch alle Meditations- und Körperübungen und sonstigen rituellen Handlungen zu verwerfen. Häufig werden Riten wie ein Zwang eingefordert in der Erwartung, dass sie von sich selbst aus eine bildende und erzieherische Wirkung auf diejenigen haben, die sich ihnen unterwerfen. Und oft nehmen auch umgekehrt Menschen in einer Art von Verzweiflung religiöse Handlungen auf sich, an die sie nicht glauben, die ihnen vielleicht auch körperlich schwer fallen, und von denen sie dennoch hoffen, dass sie von sich aus ihrem Leben und Fühlen einen Halt geben. Für Nagarjuna ist das eine falsche Herangehensweise und zeigt die innere Leere derjenigen, die sich so verhalten. Er zitiert ihre Kritik und antwortet: »Weder weißt du, warum über Leerheit gesprochen wird, noch kennst du die Leerheit selbst, noch verstehst du ihre Bedeutung. Darum quälst du dich so [damit].« (MMK, Vers 24.7)

Er wendet sich sowohl gegen diejenigen, für die es Substanz, Subjekt und Prozess (karana als den Bewegungsverlauf und samtana in der doppelten Bedeutung als Reifeprozess und Bewusstseinsstrom) als eigenständige Größen (und nicht nur als zusammengehörige Phänomene im Denken) gibt wie auch gegen alle Arten von Solipsismus und Nihilismus, die leugnen, dass es überhaupt solche Phänomene wie das Gehen, Zählen oder Tun gibt. Er vertrat daher den Mittleren Weg, der im eigenen Wahrnehmen, Denken und Handeln die Vorstellungen und aus ihnen gebildeten Begriffe und Modelle erkennt, ihre Relativität versteht und durch sie hindurch die Einsicht in die an ihnen sich indirekt zeigende Shunmyata (Leere) findet. Alles, was gedacht oder getan ist, ist insofern nur Schein und leer, weil es zwar auf etwas Äußeres verweist, aber nicht mit diesem identisch ist, sondern im Sinne von Kant als eine Erscheinung verstanden werden kann, die es so nur im Denken gibt. Anders als Kant schloss er daraus jedoch nicht auf die Existenz einer absoluten Vernunft, eines christlich gedachten Gottes, sondern umgekehrt auf die Leere als dasjenige, das letztlich allen Vorstellungen zugrunde liegt.

Aus westlicher Sicht scheint es einfach, einen solchen Ansatz zu kritisieren. Das zeigt beispielhaft Stederoth, der 2012 im Rahmen interkultureller Philosophie die Negationsformen bei Hegel und Nagarjuna verglichen hat. Für ihn gibt es zwei schlagende Argumente:

– Der Buddhismus ist ein Skeptizismus, der die Beständigkeit und Autonomie aller sinnlichen Erfahrung anzweifelt, sei es der wahrgenommenen Objekte oder des wahrnehmenden Subjekts. Er ist wie der westliche Skeptizismus eine Durchgangsstufe, durch die der Geist im Verlaufe seiner Entwicklung hindurch muss und die er wieder verlässt zugunsten eines weiter gefassten Verständnisses von Kunst, Religion und Philosophie.

– Nagarjuna argumentiert nur formal im Sinne einer äußerlichen Unterscheidung von Gehendem, Gehen und gegangener Strecke, obwohl doch jeder spürt, dass sie verschiedene Momente einer Sache sind. Es gelingt ihm nicht, von der formalen Betrachtung zu einer realen Betrachtung zu gelangen, die die Sache als Einheit ihrer Momente erkennt. Das formale Denken ist wiederum nur eine notwendige Durchgangsstufe, die innerhalb der Wissenschaft der Logik im Ergebnis zu einem umfassenderen Verständnis führt, was Objektivität und Ideen sind. Die Lehre des bedingten Entstehens lässt sich mit Hegel beantworten. Die Lehre des bedingten Entstehens isoliert auf ähnlich Weise Ursache und Wirkung voneinander und stellt sie einander abstrakt gegenüber, wie im genannten Beispiel Gehender, Gehen und gegangener Weg getrennt wurden, und vermag sie nicht als Momente eines einheitlichen Begründungszusammenhangs zu sehen. Hegel hat exemplarisch gezeigt, wie der formelle Grund übergeht in den realen Grund, wenn aus einer anfangs nur oberflächlichen Aufzählung von Gründen und Bedingungen schließlich die Sache selbst erkennbar wird und hervortritt, deren innere Natur der Grund für ihre Entwicklung ist. Damit entfällt nach Stederoth für die Philosophie von Nagarjuna die Grundlage und sie erweist sich als Vertreter einer bestimmten Etappe in der Geschichte der Philosophie.

Für Nagarjuna wäre eine Kritik wie diese ein Beispiel mehr für diejenigen, die nicht die tiefe Bedeutung des Leeren verstanden haben. Er könnte Hegel dessen Begriff des Absoluten vorhalten: Der Weg der Phänomenologie des Geistes endet für Hegel im absoluten Wissen, die Übergänge, Reflexionen und Entwicklungen der logischen Begriffe in der absoluten Idee. Wer nicht mit Hegel das absolute Ziel teilt (absolutes Wissen bzw. absolute Idee), kann dennoch bereit sein, in der dialektischen Methode oder genauer in der Negation der Negation einen Weg zu sehen, der zwar nie zu Ende ist, aber in jeder Situation das Denken weiter bringt. Beides sind aus Sicht von Nagarjuna Verabsolutierungen, die für sich leer sind.

Der Bewusstseinsstrom nach Vasubandhu

Vasubandhu lebte ungefähr 200 Jahre nach Nagarjuna im 4./5. Jh. n. Chr., war Brahmane und stammte aus Peshawar im heutigen Pakistan. Schon in jungen Jahren schloss er sich einem buddhistischen Kloster an, wurde in seinen Wanderjahren in Kaschmir in traditionelles Geheimwissen eingeweiht und lebte in Ayadhya, einer der sieben heiligen Städte des Hinduismus in der Nähe des heutigen Nepal.

Von seinen zahlreichen Schriften wurden für den Mahayana-Buddhismus vor allem die Vimsatika-vijnaptimatratasiddhi (20 Verse über Nur-Erscheinung) mit ihrer Ergänzung Trimsika-vijnaptimatrata (30 Verse über Nur-Erscheinung) sowie Trisvabhavanirdesa (Abhandlung über die drei Naturen) von Bedeutung, um die es im Folgenden gehen soll. Sie begründen innerhalb der von Nagarjuna begründeten Mittleren Lehre eine eigene buddhistische Schule, die unterschiedliche Namen bekommen hat: Yogachara (Ausübung des Yoga, siehe auch eine kürzere Fassung in britannica.com), Vijnanavada (Lehre des Bewusstseins), Vijnaptimatra (Lehre des Nur-Bewusstseins) oder Cittamatra (Lehre des Nur-Geist).

Vasubandhu fragt: Woher wissen wir oder glauben zu wissen, wenn wir sagen, was das Gehen, das Tun oder die in ihnen enthaltene Leere ist? Für Nagarjuna genügte die Überzeugung, die Sache so zu sehen, wie sie ist. Aber wann sind wir fähig, sie so zu sehen, wie sie ist? Das erfordert Wachheit und Aufmerksamkeit, und die Fähigkeit, sich in Dinge versenken und auf andere Menschen hören zu können, sowie einen langen Atem, bis alle Seiten und Aspekte berücksichtigt sind. Aus dem frühen Buddhismus waren einige Begriffe überliefert, die nur schwer zu übersetzen und voneinander zu unterscheiden sind: citta, was mit Herz, Geist, Aufmerksamkeit, die gesamte Verfassung des Bewusstseins übersetzt werden kann. Davon ist vage unterschieden manas, die logische Denkfähigkeit und vijnana, die spezifische Bewusstheit. Manche sind von visionären Erscheinungen überwältigt, andere verlassen sich auf ihre geduldige Forschung oder ihren gesunden Menschenverstand, das Bauchgefühl, ihre Lebenserfahrung, Menschenkenntnis usf. Einige verfügen über besondere Fähigkeiten und können besser als andere religiöse Offenbarungen wahrnehmen und Orakel deuten, oder verfügen über besondere künstlerische Kreativität und Intuition. Das hat zur Herausbildung von Eliten geführt und dem Wunsch, sich bestimmtes Geheimwissen anzueignen oder einen exklusiven Zugang zu den Dingen finden zu können. Vasubandhu vertritt – wenn ich es richtig verstehe – eine aufklärerische Haltung. Er lässt alle Richtungen gelten und favorisiert keine von ihnen, sondern fragt nach der Gesamtheit und den übergreifenden Gemeinsamkeiten: Wie auch immer jemand zu seinen Ergebnissen kommt, es gibt einen Bewusstseinsstrom (citta-samtana), in dem sich jeder seine Vorstellungen bildet und Schlüsse zieht. Vasubandhu unterscheidet im Bewusstseinsstrom unterschiedliche Ebenen und fragt nach den Bedingungen, wann ein Bewusstseinsstrom erfolgreich ist, frei fließt und sich nicht blockiert.

Daher rückt für ihn und der ihm folgenden Richtung des Yogachara der Ausdruck vijnapti-matra ins Zentrum. Es gibt verschiedene Übersetzungen: Im Englischen consciousness-only oder mind-only. Mir erscheint die deutsche Übersetzung in Erscheinung treffend. Sie zeigt die Nähe zum Grundgedanken der Philosophie von Kant und Schopenhauer: Wir wissen von der Welt nur, wie sie in unserem Denken erscheint. Das bedeutet nicht, dass es nichts anderes als unser Denken gibt, aber alles, was wir davon wissen können, ist gebunden an die Vorstellungen, die wir uns davon in unserem Denken machen. Es gibt neben der Wahrnehmung und ihrer Auswertung in unserem Denken keinen weiteren geheimen Weg zu den Dingen außerhalb von uns. (Schopenhauer ergänzte die innere Erfahrung unseres eigenen Leibes, aber es wird sich zeigen, dass diese Erfahrung in der Lehre von Vasubandhu enthalten ist.) – Implizit wird auch den mit dem linguistic turn wiederbelebten Theorien von Zeichen- und Bedeutungssystemen widersprochen, als würden die Zeichen und Bedeutungen über eine eigene Sprache verfügen, die unabhängig von der Sprache des Bewusstseins gilt und diese ergänzt oder bestätigt (und von einer geschickten Werbestrategie ausgenutzt werden kann, um potentielle Konsumenten für einen Kauf zu manipulieren).

Im Bewusstseinsstrom werden drei Ebenen unterschieden, die den drei von Varga von Kibéd genannten Prinzipien entsprechen. In Anlehnung an Jonathan C. Gold kann folgende Übersicht gegeben werden:

1 Erfahrung, Erlebnis
(Experience)
 falscher Anschein (Selbst, Gegenstände, Begriffe)
(False Appearances of self, objects, concepts)
2 Modelle, Konstruktion
(Causality)
Gedächtnis, Leib
(Storehouse Consciousness)
3 Letzte Wirklichkeit
(Ultimate Reality)
Nur Buddhas wissen es (Unbeschreiblichkeit, tathata
(Only Buddhas Know, Ineffability)

(1) Auf der ersten Ebene erscheinen uns die Dinge in der sinnlichen Wahrnehmung und im Verstand (parikalpita-svabhava) so wie wir sie erleben. Das ist das gewöhnliche, alltägliche, naive Wissen. Ich sehe ein Glas Milch und gehe davon aus, dass die Milch und das Glas unabhängig von mir existieren. Dort gibt es die Dinge (Objekte), hier gibt es das jeweilige Subjekt, das sie sieht, sich eine Vorstellung davon macht und ihnen einen Namen gibt. Alles tritt gedoppelt auf (dual), als die jeweilige Sache und das sie treffende Wort.

Zunächst zweifelt niemand daran, dass die Worte die Dinge so benennen, wie sie sind. Aber was ist mit der Erfahrung von optischen Täuschungen, Träumen, Halluzinationen, religiösen Trancezuständen bis zu umfassenden kollektiven Vorurteilen (wie Rassismus, Nationalismus etc.), die die unbefangene Wahrnehmung vorprägen und beeinträchtigen? Wir können etwas träumen, was es nicht wirklich gibt, und es gibt verbreitete Vorurteile, die nicht mit der Realität übereinstimmen. Traumatische Erfahrungen können alle nachfolgenden Erfahrungen vorprägen. Wer das ignoriert, scheint auf einem naiven Standpunkt zu verharren. Von den meisten Philosophen und Theologen wird daher die Ebene des gewöhnlichen, alltäglichen Bewusstseins etwas abwertend dargestellt: Im Sinne von Heidegger handelt es sich auf der ersten Ebene um das kategoriale Wissen, das auf der Stufe der »Durchschnittlichkeit« und des »Man« bleibt. Im Sinne von Wittgenstein sind es die Protokollsätze, über die die Naturwissenschaften nicht hinauskommen und daher nie die Fragen erreichen, um die es dem Menschen in seinem Leben wirklich geht. Die Philosophie spricht ein wenig von oben herab vom Verstand (diánoia) und der Beliebigkeit der vielen in der Öffentlichkeit vertretenen Meinungen (Glauben ohne Wissen), die sie von der Vernunft (nóesis) unterscheidet. Für Hegel ist diese Stufe die erste Natur. In buddhistischer Literatur wird sie oft von Beginn an als Nur-Erscheinung angesehen (engl. übersetzt fabrication). Nur bei Rousseau und Schiller wird das Naive der Natur wieder aufgewertet und einer entfremdenden Kunst gegenübergestellt, – die Sehnsucht, der Welt und den anderen Menschen wieder in naiver Unschuld gegenübertreten zu können (Scheier, 5f). – Im Diagramm von Gold wird daher von »False Appearances« gesprochen (falschem Anschein): Wir lassen uns täuschen und glauben, dass die Inhalte, die nur in unserer Wahrnehmung und unserem Denken bestehen, eine eigenständige Existenz haben.

(2) Darauf aufbauend entstehen auf der zweiten Ebene Theorien, die die Inhalte und das Wesen der Erscheinungen erklären sollen. Typische Beispiele sind die Frage, ob die Erde eine Kugel ist und ob sich die Erde um die Sonne dreht. Das widerspricht der unmittelbaren Wahrnehmung, aber nur mit solchen Annahmen lässt sich widerspruchsfrei die Gesamtheit aller Erfahrungen erklären. Zum Beispiel ist die von der Erde aus beobachtbare Bewegungsbahn der Venus auf einfache Weise nur verständlich, wenn angenommen wird, dass sich die Venus und die Erde auf unterschiedlichen Bahnen um die Sonne bewegen.

Ein anderes Beispiel ist die Annahme übergreifender Kräfte. Wenn in den Beobachtungen Regelmäßigkeiten festgestellt werden – seien dies die Bahnen der Himmelskörper oder ähnliche Verhaltensmuster, die sich bei allen Menschen zeigen –, dann wird angenommen, dass es Kräfte oder Triebe gibt, wodurch sie hervorgerufen und ihre Einhaltung sichergestellt wird. Obwohl niemand unmittelbar eine Kraft wahrnehmen kann, – weder die Gravitationskraft oder einen animalischen Trieb –, sondern nur die von ihr hervorgerufenen Erscheinungen, wird von der Existenz der Kräfte und Triebe ausgegangen. Für Hegel ist das die Zweite Natur. Die meisten Menschen können in ihrer alltäglichen Sprachweise kaum unterscheiden, was zur Ersten und was zur Zweiten Natur gehört. Sie reden von Kräften und Trieben genau so selbstverständlich wie vom Tisch, den Tassen und der Milch darin. Nicht anders geht es den Naturwissenschaftlern. Sie führen auf Grundlage ihrer Experimente und ihres empirischen Wissens Begriffe ein wie Atom, Molekül, Photon, Vakuum, Quark und reden anschließend so, als würde es diese Dinge geben so wie es Tische, Stühle und Bierseidel gibt.

Offenbar gibt es im Menschen einen im Verborgenen verlaufenden Prozess, der auf diese Weise die unterschiedlichen sinnlichen Eindrücke zusammenführt und mit ihnen Vorstellungen bildet (cross modality). Das ist nach Vasubandhu das Speicherbewusstsein (alaya-vijnana, engl. Storehouse Consciousness). Mit ihm werden elementar die mit den unterschiedlichen Sinnen wahrgenommenen Eindrücke (die Farben, Gerüche, Geschmack, Geräusch und Tastwahrnehmungen) zusammengebracht, und das Speicherbewusstsein ermöglicht, dass völlig selbstverständlich z.B. Hör- und Seheindrücke einer gemeinsamen Quelle zugeordnet werden können. Beispiel: Der Hund, den ich dort sehe, und das Bellen, das ich höre, beschreiben das gleiche Lebewesen. Was jedem so selbstverständlich ist, dass es nahezu absurd erscheint, überhaupt darüber nachzudenken, erwies sich als verblüffend komplex, sowie versucht wurde, für Roboter vergleichbare Fähigkeiten zu programmieren, die mit visuellen und auditiven Sensoren ausgestattet sind. Zugleich enthält das Speicherbewusstsein ein elementares Gedächtnis (einen Speicher) und verhindert, dass die zeitlich einander folgenden sinnlichen Eindrücke völlig auseinander fallen.

Gibt es für das Speicherbewusstsein ein eigenes Organ? Heute werden sicher die meisten im Gehirn oder im Nervensystem den Ort des Speichers und der Verknüpfung der verschiedenen Sinneserfahrungen sehen. Anderen ist das zu wenig und eine reduktionistische Vorstellung. So weit ich es verstehe haben Schopenhauer und die ihm folgende Phänomenologie etwa von Merleau-Ponty mit dem Leib gemeint, was im Buddhismus als Speicherbewusstsein bezeichnet wird. Der Leib ist im Ganzen das Organ, mit dem auf körperlicher Ebene die unterschiedlichen sinnlichen Erfahrungen integriert werden, noch bevor sich das Denken davon eine Vorstellung bildet. Die Vorstellungen bauen darauf auf.

Im Ganzen wird die zweite Ebene als paratantra-svabhava bezeichnet, die Gesamtheit alles dessen, was nicht aus sich selbst entstanden ist, sondern bedingt durch anderes. Dies ist die Lehre des Bedingten Entstehens (pratitya-samutpada), die sich auf dieser Ebene entfaltet.

Die Lehre des Bedingten Entstehen und die von Nagarjuna ausgeführten Paradoxien sind ihrerseits eins der Modelle, die auf dieser Stufe eingeführt werden, um die Gesamtheit der sinnlichen Wahrnehmungen verstehen zu können. Die von Nagarjuna betrachteten Paradoxien lassen sich zwar nur an dem erkennen, was wir wahrnehmen, aber ihre Erkenntnis als Paradoxien ist nur dem reflektierenden Nachdenken möglich. An den wahrgenommenen Eindrücken und Erlebnissen werden innere Beziehungen erkannt, die sich nur über das kritische Denken erschließen.

Zugleich weist Nagarjuna über diese Ebene hinaus. Wenn er die Paradoxien des Bedingten Entstehens ausführt und zeigt, dass jeder auf dieser Ebene entwickelte Begriff für sich leer ist, dann zeigt er, dass es noch etwas Anderes geben muss, das über diese Ebene hinausgeht. Jeder Begriff, der auf dieser Ebene gebildet wird, ist zirkulär. Er ist nur verständlich innerhalb des jeweiligen Modells, das zugleich mit seiner Hilfe gebildet wird.

(3) Daher gibt es für den Buddhismus noch eine dritte Ebene. Wenn alle sinnlichen Erscheinungen der ersten Ebene unvollkommen und alle Modelle der zweiten Ebene letztlich paradox und zirkulär sind, muss es etwas geben, was sich ihnen entzieht. Jonathan Gold nennt es die ultimate reality, die Letzte Wirklichkeit. Das ist dasjenige, was nach der buddhistischen Lehre nicht erscheint (parinispanna-svabhava): tathata. Das ist wörtlich übersetzt die Soheit oder Solchheit und meint den Grund der Dinge, der erst durch buddhistische Meditation erreicht werden kann. Andere übersetzen es mit Unbeschreiblichkeit (ineffability) oder einfach als Erfüllung. Dadurch erhält der bei Nagarjuna negativ bestimmte Begriff der Leere eine neue Wende.

Bedarf es also doch eines dritten Weges, oder einer Art Geheimwissen, um solche Erfüllung zu erreichen? Das scheinen sich viele vom Buddhismus zu versprechen und geraten dadurch unversehens in die von Nagarjuna gezeigten Paradoxien. Vasubandhu stellt daher nicht einfach die drei Naturen einander gegenüber, sondern er zeigt in den beiden anderen Schriften (Vimsatika und Trimsika, 20 Verse und 30 Verse über Nur-Erscheinung), auf welche Weise unterschiedliche Arten von Bewusstseinsströmen in ihrer Kontinuität, inneren Gebundenheit und Klarheit voneinander unterschieden werden können, und wie sie auseinander hervorgehen.

Jeder Bewusstseinsstrom bewegt sich in einem Spannungsfeld von Aufnahmebereitschaft (Aufmerksamkeit) und der Fähigkeit, die aufgenommenen Eindrücke stabilisieren zu können. Im Traum besteht zum Beispiel eine sehr lose Verbindung zwischen äußeren Eindrücken und ihrer Gestaltung im Traumgeschehen. Wer von Einhörnern oder mythologischen Gestalten träumt, kann diese im Traum nicht unterscheiden von Gestalten, die aus der sinnlichen Wahrnehmung bekannt sind. Sie gelten im Traum als ebenso real wie Bäume oder Tiere. Wer während des Schlafens einen realen Donner hört, kann nicht dessen wahre Quelle lokalisieren, sondern der Donner geht in irgendeiner Weise in den Traum ein.

Daher ist für Vasubandhu die leitende Frage: Was unterscheidet Traum und Wachheit? Ein Schlüsselbegriff ist alaya (von Kalupahana ins Englische übersetzt als mooring, das ist vertäuen, verankern, festmachen). »We have interpreted alaya as 'mooring'. It is the source of the dispositional tendencies (samskara) that are operative in the perceptual process.« (Kalupahana, 194)

alaya ist die Fähigkeit, für jeden Eindruck seinen Grund zu finden. Das ist in einem elementaren Vorgang der Ort, den dieser Eindruck im Speicher des Speicherbewusstseins bekommt. Das lässt sich ganz wörtlich verstehen: Jeder Eindruck wird verankert (vertäut) in die Gesamtheit aller anderen frühen Eindrücke. Im Ergebnis wird mit jedem neuen Eindruck das Netz aller Eindrücke enger und sicherer gespannt.

alaya kann auch als Wohnung, Ort, Stätte übersetzt werden (und hat so gesehen Verwandtschaft mit der von Platon im Timaios genannten chora, das ist in der Übersetzung von Natorp die »Ortsbestimmtheit«, »das, worin es wird«, »das Aufnehmende der Mutter«, der »Sitz«, »irgendwie ein Halt am Sein«; Natorp, 365, 367, 368). Während jedoch Platon von der objektiven Welt spricht, bleibt Vasubandhu konsequent dabei, dies nur auf den Bewusstseinsstrom zu beziehen. Wie können innerhalb der verwirrenden Vielfalt von einströmenden Eindrücken und von zusätzlich von innen kommenden Assoziationen und aufsteigenden Bildern, Gefühlen der Angst oder der Freude, Bezugspunkte gefunden werden, an denen sich die Vorstellungen orientieren?

»Vijnana is not an entity. It is the act of being conscious (vijnatiti vijnanam). Alaya-vijnana is thus the process of consciousness that gets anchored, resulting in 'attachment' or 'desire'. In that sense it is resultant (vipaka). However, since such consciousness continues to be function in human behavior, it also serves as the cause (karana) or seed (bija).« (Kalupahana, 195)

Das Bewusstsein ist auf einer höheren Ebene die innere Kontinuität des Denkprozesses, des Bewusstseinsstromes, wovon er sich unterscheidet vom Träumen oder anderen flüchtigen oder täuschenden Prozessen.

»And also possessed of other forms of contact, etc. (i.e. attention, feeling, perception and volition) born of such (self-view, etc.) and made of such (self-view, etc.). It is not found in the worthy one, nor in the state of cessation nor in the supra-mundane path.« (Vasubandhu Trimsika, Vers 7, zitiert bei Kalupahana, 198)

Kalupahana kommentiert:

»With the emergence of self-consciousness, all perceptual activities such as contact, attention, feeling, perception and volition, which previously 'belonged', now come to be 'possessed'. What was earlier 'dependently arisen (pratityasamutpanna) in the individual stream of consciousness, now turns out to be part of an ego.« (Kalupahana, 198)

Im Gedankenstrom ist alles im bedingten Entstehen. Wenn es zunehmend gelingt, ihn im Innern zusammenzuhalten, entstehen daraus auf der Objektseite die Substanzen, denen die unterschiedlichen Erscheinungen zugeordnet werden, und auf der Subjektseite das Ich (Ego), das als Träger des Bewusstseinsstromes erfahren wird. Vasubandhu geht in den Trimsika bis ins Detail die unterschiedlichen Momente und Stufen des sinnlichen Bewusstseins bis zur bewussten Wahrnehmung und den daraus gebildeten Vorstellungen durch. So will er zeigen, wie sich die Substanzen und das Ego im Bewusstseinsprozess bilden. Sie sind nichts als Vorstellungen, die im Bewusstseinsstrom aufkommen und diesen stabilisieren. Er ignoriert sie nicht, sondern hat im Gegenteil sehr überzeugend ihre Entstehung und ihre Bedeutung gezeigt. Doch betont er zugleich ihre Flüchtigkeit. Alle Bemühungen, auf der zweiten Ebene Antworten auf die Flüchtigkeit der elementaren Eindrücke der ersten Ebene zu finden, tragen Züge des sisyphos-haften Samsara, des unendlichen Weges und Wanderns, das nie an einem Ziel ankommen wird. Erst, wer sich daraus befreit, kommt zum Nirwana. Begriffe wie das Nirwana können nur negativ angedeutet werden, denn als Begriff oder als Versuch, diesen näher auszuführen, würden sie ihrerseits wieder in den Bereich des Samsara fallen.

Literatur

Peter Frankopan: Licht aus dem Osten, Berlin 2016 [2015]

Jay L. Garfield: Trisvabhavanirdesac – Vasubandhus Treatise on the Three Natures
in: Asian Philosophy, Vol.6 No.2 July 1997, 133-154; Link,

Jonathan C. Gold: Vasubandhu, Stanford Encyclopedia of Philosophy 2015 [2011]; Link

Jens Halfwassen: Das Absolute als Negativität und/oder als Geist - westliche und buddhistische Perspektiven (Neuplatonismus, Nagarjuna, Yogacara), Vortrag am 17. November 2011 in Heidelberg; Video

Bruce Cameron Hall: The Meaning of Vijnapti in Vasubandhu's Concept of Mind
in: The Journal of the International Association of Buddhist Studies, 1986, Vol. 9 Nr. 1, 7-23; Link

David J. Kalupahana: The Principles of Buddhist Psychology, Albany (New York) 1987

Hans Korfmacher: Mulamadhyamakakarika - Nagarjunas grundlegende Gedanken zum Mittleren Weg ; Link

Christoph Lübbert: Bedingte Entstehung, Vortrag in 3 Teilen, 2015; dbhv, dort Button ‘Dhamma-Kreis’

Nagarjuna: Lehrstrophen über die grundlegenden Lehren des Mittleren Weges (Mulamadhyamakakarika); zeno in der Übersetzung von Max Walleser, 1912

Paul Natorp: Platos Ideenlehre, Hamburg 1994

Claus-Artur Scheier: Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung – Seminar Sommersemester Braunschweig 2017

Lambert Schmithausen: Zur Literaturgeschichte der älteren Yogacara-Schule
in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Supplementa I, 811-823; Link

Dirk Stederoth: Wege des Negativen. Zum Verhältnis der Negationsformen bei Nagarjuna und Hegel
in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Helmut Schneider (Hg.): Zwischen den Kulturen, Kassel 2012, S. 44-55

Thich Nhat Hanh: Fünfzig Verse über die Natur des Bewußtseins, Berlin 2003; Link

Tibetisches Zentrum Hamburg: Vasubandhu – Der zweite Buddha; Link

Bernhard Weber-Brosamer, Dieter M. Back: Die Philosophie der Leere – Nagarjunas Mulamadhaymaka-Karikas, Wiesbaden 2005 (Harrasowitz) [1997]


Navigation eine Ebene zurück
Navigation an Seitenanfang

© tydecks.info 2017