Walter Tydecks

 

Erfahrung der Zeit

Vortrag bei den Montagsvorträgen im Wohnpark Kranichstein der Akademie 55plus Darmstadt am 2.3.2020

 

Ankündigung

Wir erleben, wie sich im Laufe des Älterwerdens die Erfahrung der Zeit verändert. Die Zeit kann der eigenen Biographie einen inneren Zusammenhalt geben, aber auch bedrohlich wirken. Wie haben sich die Vorstellungen der Zeit verwandelt? Hat zum Beispiel die Relativitätstheorie von Einstein Auswirkungen auf unsere Erfahrung der Zeit?
Im Vortrag werden mit Beispielen aus Kunst, Musik, Physik und Philosophie vier Epochen der Menschheit von der Frühzeit bis zur Gegenwart vorgestellt, die auf unterschiedliche Weise unsere Erfahrung der Zeit prägen.

Einleitung

Die vier Epochen:

(i) Altsteinzeit: Die Zeit als Körpergefühl

(ii) Antike: Objektivität – die stehende Zeit des Kosmos, Zeitlosigkeit

(iii) Renaissance: Subjektivität – emotionale Zeit

(iv) 20./21. Jahrhundert: Zerrissenheit, Fragmente

I Seit 25.000 Jahren: Die Zeit als Körpergefühl

Niemand kann wissen, wie der Mensch die Zeit erfahren hat, als es noch keine schriftliche Überlieferung gab. Erhalten sind nur einige Zeichnungen und Skulpturen wie die Venus von Lespugue: »Die Venus von Lespugue ist eine etwa 25.000 Jahre alte Venusfigurine. [...] Die Figur wurde aus einem Stoßzahnfragment eines Wollhaarmammuts geschnitzt und ist 147 mm hoch.« (Wikipedia, abgerufen 19.4.2019)

Venus Lespugue

Venus von Lespugue
Urheber: (a) José-Manuel Benito - Eigenes Werk, Gemeinfrei, Link

In gewisser Weise wirkt die Figur modern: Sie zeigt ein unmittelbares Körpergefühl gleichsam von innen, und so stelle ich mir auch das Zeitempfinden dieser Epoche vor: Zeit wird nicht bewusst von außen wie ein vor uns ablaufender Prozess gesehen, an dem wir teilhaben, sondern wir nehmen in uns selbst wahr, wie die Zeit vergeht und uns prägt.

Ist uns dieses Zeitempfinden noch vertraut? Vermutlich erleben Kinder auf diese Weise die Zeit, und auf dieser Ebene könnte die Erfahrung der Zeit liegen, von der Freud in der Traumdeutung spricht. Wie nehme ich im Traum die Zeit wahr? Ist es möglich, sich über den Traum an weit vergangene Zeiten zu erinnern im Sinne eines kollektiven, mythischen Gedächtnisses? Zahlreiche Filmregisseure haben versucht, die Zeitstruktur des Traums nachzubilden.

Entspricht das der Archaik vor der Unterscheidung in den Abgrund des Waldgott Silen und des Apollinischen bei Nietzsche?

Und doch sind Skulpturen dieser Art nicht einfach willkürlich und bloß geträumt. An der Figur kann der Goldene Schnitt abgelesen werden, eine Eigenschaft an der Grenze von Biologie und Mathematik.

Venus Lespugue golden

Venus von Lespugue, Goldener Schnitt
Urheber: Quehenberger, S. 156

Wer die Mathematik liebt und begeistert ist von heiligen Zahlen wie dem Goldenen Schnitt, kann das Zeitgefühl dieser Epoche nachempfinden. Zahlen wie der Goldene Schnitt gelten unmittelbar identisch als Zahlen und als Ausdruck erlebter Wirklichkeit. Platon sprach daher vom träumenden Mathematiker (Platon Timaios 52a-53b). Nur im Zustand des Träumens sind heilige Zahlen als solche zu erfahren.

Diese Figur wird als Symbol der weiblichen Fruchtbarkeit und allgemeiner als Darstellung eines Körpergefühls verstanden, das den Körper aus sich heraus in seiner zeitlichen Entwicklung erlebt.

II Seit 2.500 Jahren: Die ewige Objektivität stillstehender Zeit

Ein Sprung von über 20.000 Jahren führt in die griechische Antike. Der Mensch hat gelernt, zwischen seiner Sterblichkeit und der Unsterblichkeit der Götter zu unterscheiden, zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Wie kann er im Diesseits am Jenseits teilhaben, und verspricht der Tod den Übergang in das Jenseits? So entsteht das Ideal einer zeitlosen Kunst und Wissenschaft.

Die Aphrodite von Praxiteles »entstand vermutlich zwischen 350 und 340 v. Chr.«. Mit dem Bewusstsein der Differenz von Sterblichkeit und Unsterblichkeit (der Vertreibung aus dem Paradies) entstand das Schamgefühl.

Praxiteles Aphrodite

Praxiteles Aphrodite von Knidos, 350-340 v.Chr.
Urheber: Copy of Praxiteles; restorer: Ippolito Buzzi (Italian, 1562-1634) - Marie-Lan Nguyen (September 2009), Gemeinfrei, Link

Diese Figur lebt nicht, sie atmet nicht. Aber sie ist perfekt. Das ist bis heute das Schönheitsideal.

Diese Schönheit ist keine wirkliche Frau, sondern es ist ein Ideal geschaffen aus vielen Frauen. Den Abstraktionsgedanken verstanden hat aber erst die Neuzeit. Im Jahr der Französischen Revolution 1789 entstand in Frankreich das Gemälde:

Vincent Zeuxis

François-André Vincent (1746-1816) Zeuxis malt die Helena für den Heratempel zu Kroton, 1789
Urheber: commons.wikimedia

Vincent zeigt: Zeuxis, ein Maler des 5. Jh. v.Chr., wählt aus mehreren Modellen die jeweils schönsten Körperteile und setzt daraus eine perfekte Frau zusammen. Auf dem daraus entstehenden Bild sind keine lebendigen Frauen mehr zu sehen.

Aus der Antike sind zahlreiche schriftliche Zeugnisse überliefert. Die ewigen Kreise der Planeten zeigen in der Astronomie das Bild der Zeitlosigkeit des Kosmos und galten als Vorbild für die platonischen Ideen und den von der Philosophie verehrten Geist.

Musik wurde noch nicht notiert und aufgeschrieben. Doch kann in der gregorianischen Musik das Ideal dieser Zeit gehört werden. Sie ist nach dem Vorbild des Pythagoras mathematisch perfekt. Sie kennt nur wenige mathematisch einfache Intervalle und keine Mehrstimmigkeit. Es gab noch keine Terzen. Als Beispiel wähle ich einen Auszug aus dem Dies Irae, das seit dem 14. Jahrhundert in der Totenmesse gesungen wird und besonders deutlich den Unterschied zu den späteren Bearbeitungen etwa im 4. Satz Der Gang zum Richtplatz der Symphonie fantastique von Berlioz oder dem Dies Irae im Requiem von Verdi hören lässt: YouTube

Wer sich in gregorianische Musik versenkt und ihr etwa in einem Konzert in einer Kirche lauscht, gewinnt das Gefühl, die Zeit verlassen und außerhalb der Zeit stehen zu können. Diese Musik zeigt die Hoffnung, dass wir nach dem Tod nicht vergehen, sondern in eine zeitlose, göttliche Ordnung aufgenommen werden.

III Seit 500 Jahren: Die Zeit wird emotional erfahren, Subjektivität

Und doch stimmt das nicht mit der von uns erlebten Wirklichkeit überein. Zur gleichen Zeit, als das Dies Irae gesungen wurde, brach die Renaissance mit diesem Ideal. Ist ein größerer Kontrast zur antiken Venus vorstellbar, als die von Michelangelo (1475-1564) in den Jahren nach 1524 gestaltete Nacht? Diese Frau ist zu erleben in ihrer Vergänglichkeit: Ihr Körper ist kein Ideal. Sie lebt, sieht aus wie eine Frau aus dem wirklichen Leben, und sie wird sterben.

Michelangelo Nacht

Michelangelo: Nacht
Urheber: Rabe! - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Link

In der Physik ließ sich das antike Bild der zeitlosen Ordnung des Kosmos nicht länger halten. Dessen Ideal war der gleichmäßige Kreis. Er wird 1606 gebrochen, als Johannes Kepler (1571-1630) entdeckte, dass sich die Planeten auf Ellipsen statt auf Kreisen bewegen.

Es gibt nicht mehr die Geborgenheit in einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit. Newtons Versuch, sie wieder zu retten, ließ sich nicht lange aufrecht erhalten und blieb ein Zwischenspiel. Jeder empfindet in jedem Moment seines Lebens seine eigene Zeit. Die subjektive Wahrnehmung der Zeit kann schwanken zwischen den Extremen der nicht enden wollenden Langeweile und größter Zeitnot. Hölderlin bringt es 1804 in seinen Anmerkungen zur Antigonä auf den Punkt, wenn er am Beispiel der antiken Tragödien von Sophokles in moderner Deutung vom »tragischmäßig Zeitmatte(n)« und dem »reißenden Zeitgeist« spricht (Hölderlin, Bd. 2, 370).

In der Musik hat kaum jemand das neue Zeitgefühl so gut getroffen wie Johann Sebastian Bach (1685-1750). Der 1722 fertiggestellte 1. Band des Wohltemperierten Klavier enthält das Präludium und Fuge e-Moll BWV 855, das mit seiner fortlaufend aufgebauten inneren Spannung und dem jähen Umschlag in das Presto wie kein anderes Werk ein neues Zeitgefühl zeigt (höre Svjatoslaw Richter auf YouTube). Fuge bedeutet wörtlich Flucht und zeigt die innere Unruhe des subjektiven Zeitgefühls. Bach folgt der Affektenlehre. Sie geht zwar auf die Antike zurück, ist jedoch erst im 17. und 18. Jahrhundert ausgearbeitet worden und konnte mit den Mitteln der Mehrstimmigkeit und vielfältiger neuer Intervalle in ganz anderem Maße umgesetzt werden. Übergreifend kam es zur Epoche der Empfindsamkeit, vertreten durch Jean-Jacques Rousseau, Lawrence Sterne, in Deutschland Friedrich Gottlieb Klopstock, Gotthold Ephraim Lessing (der im Deutschen den Ausdruck »empfindsam« eingeführt hatte) und vielen anderen.

Aber den meisten war das zu radikal. In der Zeit der Französischen Revolution kam es zu einem Moment der Wiederkehr der objektiven Kunst. Die Kathedrale Notre Dame von Paris wurde 1793 der Göttin der Vernunft geweiht. Im gleichen Jahr wird aus der ehemaligen Residenz der Könige in Paris der Louvre geschaffen, bis heute das meistbesuchte Museum der Welt. Hier »feierte sich 'das Volk' selber als neuer Besitzer eines Kunsterbes, das nicht mehr dem Hof und der Kirche gehörte« (Belting, 64). Napoleon übernahm das, versammelte dort die europäische Beutekunst und schuf so zugleich ein Werk von übernationaler Bedeutung. Paris trat die Nachfolge von Rom an. Das wurde von vielen kritisiert, die diese Werke nicht künstlich zusammengestellt sehen wollten, sondern in der authentischen Umgebung in Rom oder anderen Orten. 1803 nannte er den Louvre schlicht »Museum Napoleon«. Hier triumphierte das apollinische Kunstideal. Zum Ideal dieser Kunst wurde die durch einen Glücksfall im Jahre 1820 von griechischen Bauern entdeckte Venus von Milo, und es waren zugleich Franzosen vor Ort, die sie abkauften und in den Louvre übernahmen.

Kunstideal des seit 1789 emanzipierten und erfolgreichen Bürgertums wurde jedoch die Sixtinische Madonna von Raffael.

sixtinische Madonna

Raffael Sixtinische Madonna, 1512-13
1753/54 von August III erworben und nach Dresden gebracht.
Urheber: Raffael - Google Art Project: Home - pic Maximum resolution., Gemeinfrei, Link

Die Begeisterung überschlug sich geradezu, angefangen mit Winckelmann, den Romantikern, Goethe bis zu Heidegger. Die Schlegel-Brüder schrieben die »Gemäldegespräche«. Dies Gemälde löste eine neue Form von Andacht aus, wie sie sonst nur im Konzertsaal zu erleben war, der sich ebenfalls vom Trubel des Hofes befreite. Versunken standen die Betrachter vor dem Werk und versuchten dessen Aussage zu verstehen. Es zeigt nicht die Natur und eine alltägliche Szene, sondern befindet sich in einer Art metaphysischem Raum. Wer genau hinschaut, wird entdecken, dass die Wolken schemenhaft dargestellte Engel sind.

Für Hendrik Steffens war sie die »Illusion der Dichtkunst.« Dostojewski stand immer wieder lange vor dem Gemälde, »damit ich am Menschen nicht verzweifle«. »Für Thomas Mann war sie das 'größte malerische Erlebnis' und Martin Heidegger faßt eine zweihundertjährige Diskussion in dem Satz zusammen: 'Um dieses Bild versammeln sich alle noch ungelösten Fragen nach der Kunst und dem Kunstwerk.'« (Zu Heidegger siehe Über die Sixtina in GA 13 Aus der Erfahrung des Denkens; Link). Nietzsche dagegen: »Dies Gesicht und dieser Blick strahlt von der Freude in den Gesichtern der Betrachter wieder.« (Menschliches Allzumenschliches, Ehrliches Malertum). (Belting, 82ff)

Über Geschmack lässt sich streiten. Das Ideal der Neuzeit ist für mich mit Eugéne Delacroix (1798-1863) erreicht. Von ihm stammt ein Gemälde, das für mich gleichberechtigt neben der Venus von Lespugue, Praxiteles und Michelangelo steht:

Delacroix Frau mit Papager

Eugéne Delacroix Frau mit Papagei, 1827
Urheber: By Eugène Delacroix - Web Gallery of Art:   Image  Info about artwork, Public Domain, Link

Das Gefühl, genau im gegebenen Zeitmoment leben zu können und ihn auszukosten. Selbst wenn die Frau altert, wird sie sich an ihre Jugend erinnern.

IV Seit 100 Jahren: Fragmente, Multiperspektivität

Mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts lösen sich alle überlieferten Ordnungen auf. Wer sich an die eigene Geschichte der vergangenen 60, 70 oder 80 Jahre erinnert und sich in das Leben seiner Eltern und Großeltern zurückversetzt, kann kaum fassen, wie viel sich geändert hat: In einem bis in das 19. Jahrhundert überwiegend agrarischen Land haben fast alle Bauern ihren früheren Beruf und die damit verbundene Kultur verlassen. Wer erlebt, was sich heute in einem Schlachthof abspielt, kann sich kaum mehr vorstellen, wie noch vor wenigen Jahrzehnten die Menschen mit den Tieren einträchtig zusammen gelebt und an kalten Tagen aneinander gewärmt haben. Das Gefühl für die Jahreszeiten geht verloren. Wissen wird durch Bildung statt Erleben in der Natur erworben. In fast allen Familien haben erstmals neue Generationen eine akademische Ausbildung durchlaufen und mussten erleben, wie ihre Eltern nicht verstehen, was sie lernen. Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau löst sich auf, und die großen Kriege und ihre Flüchtlingsbewegungen tun ein übriges an sozialen Umbrüchen und Entwurzelungen. Es gibt keine vorhersehbaren Biographien mehr. Jedem Einzelnen fällt es schwer, für sich in Bilder und Worte zu fassen, wie für ihn in diesen Brüchen das Zeitgefüge auseinander geraten ist. Da hilft die Kunst. Wer hat das neue Zeitgefühl besser getroffen als Picasso? Sein 1905 entstandenes Gemälde Die Gaukler stammt aus dem gleichen Jahr, in dem Einstein die Spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte und die neue Lehre des Lichts begründete. Picasso greift die metaphysische Bildgestaltung der Sixtinischen Madonna von Raffael auf und deutet diese Art von Kunst völlig neu.

Pablo Picasso (1881-1973) Die Gaukler (Les Saltimbanques) (1905)
Bild darf in Deutschland nur über den Link genannt werden: Link

Die dazu passende Musik stammt für mich von Sergei Prokofjew (1891-1953). Er hat bereits 1912 eine Toccata in d-moll, op. 11 geschrieben, die den Jazz und Rock, den Rhythmus des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Und niemand hat sie besser interpretiert als er selbst in einer Mischung von Rausch und Präzision: YouTube. Das ist weder Objektivität noch Subjektivität: Es ist kaum mehr zu unterscheiden, welche Impulse von außen oder innen kommen.

Und wie sieht es 100 Jahre später aus, an der Grenze zum Jahr 2000? Olafur Eliasson (* 1967 in Kopenhagen), aufgewachsen auf Island, leitet heute ein Studio mit fast 100 Mitarbeitern in Berlin, die seine Entwürfe umsetzen. Er steht laut Capital auf Rang 7 der Wichtigsten Künstler des Jahres 2018 (Capital vom 29.1.2019).

Olafur Eliasson Die organische und kristalline Beschreibung, 1996
Quelle: Link

Auch die Physik blieb nicht stehen. Der Gegensatz der antiken zeitlosen Ordnung und neuer Symmetrien wie der Ellipse bei Kepler wurde aufgelöst mit der Relativitätstheorie von Einstein, die ein neues Maß an höherer Ordnung und ein neues Verständnis der Zeit zeigt. Mit Einstein sei erinnert an dessen Freund Kurt Gödel, der im Rahmen einer an Leibniz orientierten Monadologie nach den Prinzipien der Natur und der Zeit fragte.

Unter dem Eindruck der traumatischen Erfahrungen des 1. Weltkriegs entstand eine Psychiatrie des gebrochenen Zeitbewusstseins und eine Philosophie, die das zu erklären versucht (von den Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein bei Husserl bis zum Epoche machenden Werk Sein und Zeit von Heidegger). Byun-Chul Han sieht in seinem 2010 veröffentlichten Essay Müdigkeitsgesellschaft einen neuen Typ von Krankheiten auftreten: Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivität (ADHS), Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) oder Burnout-Syndrom (BS). Ihnen allen ist das Entgleiten der Zeit gemeinsam.

Wenn dafür noch Zeit ist, möchte ich jedoch mit einem harmonischen Stück schließen, dass von einer anderen Seite einen versöhnlichen Blick auf die Zeit zeigt, Dave Brubeck (1920-2012) mit einem Stück aus dem Jahr 1959: Take Five in der Originalversion YouTube, in einer Live-Version YouTube oder mit einem ausgedehnten Schlagzeug-Solo YouTube. Wer darauf achtet, wird im ungewöhnlichen 5/4-Takt eine Erinnerung an die im Goldenen Schnitt verborgene Fünfer-Symmetrie der Venus von Lespugue hören. Zugleich ist es ein »Gruß« an Kurt Gödel, über den der vorherige Vortrag Kurt Gödel und die Sprache der Kunst handelte. Er war von einer Musik dieser Art begeistert und ist von Princeton aus häufig nach New York gefahren, auch wenn ich nicht weiß, ob er Dave Brubeck live gehört hat.

So muss jeder für sich 4 Zeiterfahrungen zusammenbringen. Er kann sie mit den eigenen Lebensaltern in der Kindheit, Jugend, dem Erwachsensein und im Alter verbinden. Er hat erlebt, wie anders noch die Vorfahren gelebt und Zeit erfahren haben. Statt einer abschließenden Aussage ein kleiner Aphorismus, entstanden als Pantun in einer gemeinsamen Übung eine Woche vor dem Vortrag:

Die vier Zeiten ergeben eine innere Bewegung.
Das Unbekannte trägt mich.
Es ist die Bewegtheit, die ins Offene führt.
Vom Offenen geht eine Vision aus.
Die innere Bewegung verliert sich im Unbekannten.
Die Zeit des Unbekannten verleiht Kontinuität.
Wie sind die vier Zeiten untereinander verwoben?

Literatur

Honoré de Balzac: Das unbekannte Meisterwerk, Zürich 2009 [1831/37]

Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk, München 1998

Sigmund Freud: Traumdeutung, Frankfurt 2000 [1899]

Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2012 [2010]

Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe (Knaupp-Ausgabe, Hanser-Ausgabe neu), 3 Bd., München 1992

Renate Quehenberger: Zur Hermeneutik der Penrose Muster, Wien 2019


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