Walter Tydecks

 

8. Mathematik des Bösen

Einleitung (Was ist Mathematische Existenz?)

Die Umdeutung von Hölderlin für die Ziele des Faschismus zeigt, wo den Mathematik-Visionen nicht weiter nachgegangen werden konnte. Wie war eine solche Umdeutung überhaupt möglich? War es zu einem Einbruch des Bösen gekommen, das sich ausgerechnet der Sprache Hölderlins bedienen konnte? Hatte dieser Einbruch schon eingesetzt, als Hölderlin 1806 "von seinen Göttern in den Schutz des Wahnsinns hinweggenommen" wurde (Heidegger, Schellings Freiheitsschrift, S. 3)? Schelling stellte sich genau diese Frage. Die "heile Welt" in Jena war endgültig dahin, der Romantiker-Kreis innerlich zerstritten, Herder war verbittert gestorben, Goethe begann seine Selbstvergottung, und alle Hoffnungen auf die Aufklärung und die Französische Revolution mussten aufgegeben werden. Hegel wollte das nicht wahrhaben und ging den eingeschlagenen Weg einfach weiter, ohne zu spüren, dass etwas nicht stimmen konnte, wenn unmerklich der preußische König in seinem System an die Stelle Napoleons trat, und das System gegen solche Verwandlung immun blieb. Die Frage der Freiheit stellte sich ganz neu. Warum hatte sie in Deutschland nicht verwirklicht werden können, und warum war sie in Frankreich umgeschlagen und forderte nun wiederum eine Befreiung gegen die französische Besetzung heraus? 1809 veröffentlichte Schelling "Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände", dem dann ein 45-jähriges Schweigen bis zu seinem Tode 1854 folgte (nur unterbrochen von kleineren Arbeiten wie den "Göttern von Samothrake" 1815).

Heidegger stellt 1935 die Frage, woran Schelling gescheitert ist, und schließt nur 11 Jahre später nach der Erfahrung des Faschismus, dass das "scheiternde Denken ... das einzige Geschenk (ist), das dem Denken aus dem Sein zukommen könnte" (Brief über den Humanismus in: Wegmarken, S. 343). Schelling ist gescheitert, weil er die Frage nach dem "System der Freiheit" nicht zu klären vermochte.

"Im Begriff 'das System' schwingt dieses alles zumal mit: das Mathematische, das Denken als Gesetz des Seyns, die Gesetzgebung des Genies, die Befreiung des Menschen zur Freiheit inmitten des Seienden im Ganzen, das Ganze selbst im Einzelnen: omnia ubique. Man begreift nichts von dem, was zufällig mit dem Namen 'Barock' belegt ist, wenn man nicht das Wesen dieser Systembildung begriffen hat." (Heidegger, Schellings Freiheitsschrift, S. 39)

Als die Intentionen Hölderlins nicht fortgeführt wurden, hatte das Denken wie von ihm befürchtet sein Maß verloren. Dies wurde dem Denken selbst spürbar als Verlust der systembildenden Kraft. Seit Descartes hatte es sich dabei immer auf die Mathematik verlassen, und nun erschien umgekehrt "das Mathematische" als erster Ausdruck einer neuen Krise, die noch nicht verstanden wurde. Im Gegenteil scheint die Krise des Systems der Freiheit eine spät bemerkte Folge der "Vorherrschaft des Mathematischen" (ebd.) zu sein. Was ist das für eine Mathematik-Vision?

Alles, was bisher zur Mathematischen Existenz gesagt wurde, ist nochmals aufzurollen. Welchen Zug gibt es im Mathematischen, der zur "Vorherrschaft" drängt, und über welche Machtmittel und Verführungstechniken verfügt die Mathematische Existenz, um sich in die Systembildung und die menschliche Freiheit einzudrängen und diese innerlich auszuhöhlen? Was ist das Mathematische an dieser Existenz und was sind die Anfangsgründe (archai) der Mathematischen Existenz in der Existenz? Dies ist die Frage nach Zahl und Bewegung. Die Mathematik-Visionen zusammenfassend können die Anfangsgründe der Bewegung verstanden werden als die freudige Lebendigkeit im Wesen der Musik, als die den starren Gegensatz des Seienden und Nichtseienden durchbrechenden und der Philosophie ihren Weg bahnenden Kraft des dialektischen Denkens seit Platon, als Prinzip der dynamischen Modelle bei Kepler und der inneren Kraft des Kontinuitätsprinzips bei Leibniz, als Bewegung dem Feuer entgegen bei Hölderlin (das Feuer suchend und zugleich seine drohende Maßlosigkeit wehrend) und schließlich als Bewegung des Verfalls zum Bösen und der dagegen wirkenden Gegenbewegung zum Guten, wie Heidegger Schelling interpretiert.

Mathematische Existenz ist die Frage nach dem Maß. Jeder Suche nach dem Maß (sei es als Geschmack, als Urteilskraft, als Gerechtigkeitsempfinden oder als Gefühl "hier stimmt etwas nicht") muss vorausgehen ein Grundverständnis, was Maß überhaupt ist. Dies kann aus keinem konkreten Maß gewonnen werden und wird sich nicht umgekehrt in einem konkreten Maß messen lassen. Das ist die Frage, worum es bei der Mathematischen Existenz geht.

Entfesselte Elemente, wenn das Maß fällt. Rücksichtsloses Erzwingen-Wollen des "Heiligen Maßes" (oder einer Neuen Ordnung) als Rechtfertigung des kollektiven Untergangs im Krieg. Aber Maßlosigkeit entsteht keineswegs nur im Übermaß, im Brand, der außer Kontrolle geraten ist, sondern nicht weniger bedrohlich, wenn die mathematische Existenz als solche ver-kehrt ist. Mathematische Existenz wird dann Berechnung, die alles herabzieht und nichts zu seinem wahren Maß kommen lässt. Das ist die Mathematik des Bösen, die nur verstanden werden kann als eine besondere Existenzweise der Mathematik.

Und schließlich ist dies die Frage nach dem Ort, von wo aus Mathematik und Naturwissenschaften gelehrt werden. Hölderlin hat die Frage klar gestellt: Die ungebändigte Landschaft der Zentauren und "bös sind die Pfade". Und so musste die Frage neu aufgeworfen werden nach der Erfahrung des Faschismus. Das führt zu einer Neubegründung der Topik (Topik verstanden als Ortskundigkeit und Kenntnis der richtigen Stellen, wo das Denken Halt findet). Diese Art von Weisheit muss erst wieder neu gewonnen werden, nachdem das Denken verwildert und das Gelände verstrüppt sind. Topik und Topologie (mathematische Lehre vom Ort) begründen heute die Frage nach der mathematischen Existenz.

Das Phänomen (Berechnende Mathematik)

Mathematik des Bösen erscheint als berechnende Mathematik. (1) Es wird berechnet, wie jemand in die Enge getrieben werden kann. Berechnung beginnt immer mit einer Intrige. Sein und Schein - das heißt die böse Absicht und die scheinbare Objektivität - lassen sich nur verkehren, wenn vorab Absprachen erfolgen und es dem berechnenden Denken gelingt, die einen für sich zu gewinnen und die anderen zu täuschen. Wer sich da nicht mehr zurechtfindet, gilt als der Dumme. (2) Die scheinbare Objektivität wird hergestellt, indem etwas berechnet wird und eine Rechnung präsentiert wird. (3) Diese Rechnung hat zugleich den Charakter einer offen gebliebenen Rechnung, die nun präsentiert wird, einer Rache, einer Ab-Rechnung.

Aber was heißt schon böse? Hören wir zu, wie die Absprachen gerechtfertigt werden: Hier sind keine Intrigen gemeint wie in den Tragödien von Shakespeare, sondern alles geschieht nur in bester Absicht. Absprachen dienen nur dem Ziel, später nicht unnötig Zeit zu verlieren und diejenigen nicht zu Wort kommen zu lassen, die so wie so nur ablenken und provozieren würden, und das noch nicht einmal, weil sie stören wollen, sondern weil sie nicht anders können. Damit sich auseinanderzusetzen bringt nichts, und am Ende ist es sogar auch zum Vorteil derer, die stillgestellt wurden, weil die Sache vorangebracht ist. Wenn es gut läuft, werden die ihre Meinung und ihr Verhalten von allein ändern und sich dem Strom anschließen. Welche Art von Abwägen geht hier vor?

"Man versteht sich", zwinkern sich die Beteiligten zu. Es ist eine Verabredung derer, die den Ton angeben, über die Köpfer derer hinweg, die dadurch ausgeschlossen werden. Untereinander weiß jeder, was gemeint ist, und jeder Außenstehende spürt die Absicht.

Das Blinzeln, so wie Heidegger es versteht, präpariert gewissermaßen die Gegenwart so, dass sie später im Falle einer Wiederkehr harmlos wirken kann. Alles wird so verabredet, dass es unbemerkt bleibt, jetzt und bei jeder Wiederkehr. Wer sein Unbehagen ausdrücken will, bekommt als Antwort: "Du siehst doch nur Gespenster", "hab dich doch nicht so", "willst du etwa sagen, ...".

Berechnende Mathematik ist daher so überzeugend, weil sie von sich selbst überzeugt ist, weil es also gelungen ist, Wunsch und Rechnung ineinander aufgehen zu lassen. Der Berechnung geht es im Grunde gar nicht um bestimmte Inhalte, die erreicht werden sollen, sondern die Berechnung lebt von ihrem eigenen Erfolg, dass sie immer wieder durchkommt. Daher ist ihre Methode zu betrachten.

Auf den ersten Blick sieht das so aus, als würde kaum etwas anderes gemacht als bei den üblichen statistischen Tricksereien. Suggestion von Einzelbeispielen, von denen in verfälschender Weise auf das Ganze geschlossen wird. Ausblenden der Erfahrungen aus der Vergangenheit, der wirklichen Herkunftsgeschichte. Stattdessen werden kurzfristige Veränderungsprozesse der Gegenwart unzulässig in die Vergangenheit und in die Zukunft hochgerechnet, wobei unter verfälschenden Annahmen die in der Gegenwart gültigen Größen unzutreffend bewertet oder gar als konstant angesehen und ihre Wechselbeziehungen ignoriert werden. Die Sache wird mal unzulässig vereinfacht und dann wieder übertrieben komplex dargestellt. Erkenntnis der wahren Komplexität wird verwischt. Die eigenen Ausgangstatsachen werden nur zum Teil offen gelegt. Dadurch willkürliches Festsetzen von Teilergebnissen. Diese gehen als Voraussetzungen stillschweigend in die Rechnung ein und führen zu einer verdeckten Vorentscheidung. Aber zugleich wird ein Teilbereich scheinbar unentschieden gelassen, um hier eine Rechnung vorführen und allem den Anschein der Objektivität geben zu können. Spiel von Licht und Schatten: Immer werden wichtige Teile im Dunkeln gelassen. Sie werden emotionalisiert und im Extrem sogar tabuisiert. Die innere Dynamik der beteiligten Elemente wird verkürzt.

Bedrohliche alternative Szenarien werden entworfen, um den Blick auf den einfachsten und naheliegendsten Gang zu vernebeln. Horror-Szenarien, im Extrem apokalyptische Bilder, um Entscheidungen zu erzwingen, bevor der andere überhaupt Gelegenheit zu Besinnung und Besonnenheit erhält. Überrumpeln und Diktieren des Zeitplans. Mathematik des Bösen ist immer Mathematik des Todes. Wenn die Vorgehensweise der berechnenden Mathematik näher analysiert wird, wird sich immer zeigen, dass die Rechnung nur daher zugunsten des Berechnenden aufzugehen scheint, weil mindestens eine wesentliche Variable weggelassen wurde, und ihr Weglassen wird am Ende immer mit der Drohung des Todes verbunden. Dies kann ein bevorstehender Tod sein (und für Tod kann auch stehen "endlich, wenigstens einmal noch leben zu können"), dessen vorauswirkender Eindruck genutzt wird, nun doch alles nicht "so genau" zu nehmen, wobei die eigenen Interessen sehr genau berechnet wurden. Oder das Trauma eines vergangenen Todes. An den wird vage erinnert und angedeutet, dass seinerzeit etwas geschehen ist, das sich auf keinen Fall wiederholen darf, und diese Sorge sei in die Rechnung eingegangen, wo doch in Wahrheit nur die Sorge um den eigenen Vorteil gemeint ist. Aber der vergangene Tod ist angesprochen, so dass nun jeder, der die Rechnung in Frage stellt, extra begründen muss, wie die Wiederholung eines solchen Todes vermieden werden kann - und allein, darüber sprechen zu müssen, zeigt schon, dass solche Gegenrechnung mit solchem Risiko verbunden ist, während die vorgetragene Rechnung scheinbar nichts will als vermeiden, dass sich so etwas nochmal wiederholt. Und nie bleibt es beim vergangenen Tod. Das Spiel von Andeuten, Nicht-Aussprechen und die Gegenposition dahin Drängen, das zu klären, was bewußt im Dunkeln gelassen wurde, ist immer auch mit dem mal offenen und mal versteckten Vorhalt verbunden, freies Rechnen, das der eigenen Berechnung zuwiderläuft, würde jemanden in den Tod treiben.

Solche Berechnung entzieht sich dem Wort und läßt alle dagegen vorgebrachten Worte leerlaufen. Auch die Worte verlieren damit ihre Kaft und werden bloße Schemen. Erst wird der Verrat empfunden, der durch das Wort ausgesprochen wird. Jeder Verrat ist ein verratendes Wort, immer an etwas Geliebtem, nie gegenüber dem, was gleichgültig lässt. Dann erscheinen die Sprache und einzelne Worte selbst verräterisch, schließlich wird dem Wort überhaupt nicht mehr vertraut. Der Vertrauensverlust ist die verheerendste Wirkung des berechnenden Denkens. Ist im persönlichen Gespräch dieser Grad an Auszehrung erreicht, dann springt die Berechnung über auf den öffentlichen Bereich. Dort läuft doch alles genau so, und dort hat sich diese Art der Berechnung bereits die demokratische Legitimation durch Wahlergebnisse oder Einschaltquoten gesichert.

Dort haben die modernen Sophisten ihren Auftritt: Sie errichten die bereits verkümmerte Sprache zum System der Öffentlichkeit, zur Vertuschung ihrer geheimen Absprachen, verletzen und entwerten Schamhaftigkeit ebenso wie richtig verstandenen Eroberungswillen, und verfestigen die Sprache schließlich in die Apparate des bürgerlichen Rechts und der Medien der bürgerlichen Unterhaltung mit all ihren dazugehörigen "Therapie-Angeboten". Das Recht auf Meinungsfreiheit verkümmert zum Recht, alles überall ungeniert aussprechen zu dürfen, scheinbar ohne Sinn und ohne viel Nachdenken, und kehrt sich gegen das offene Gespräch, in dem sich Meinungen geschützt entwickeln können. Berechnung im privaten Bereich und in der Öffentlichkeit beziehen sich genauestens abgestimmt aufeinander: Berechnung im Großen kann doch so schlimm nicht sein, wo jeder im Persönlichen es genau so macht, und Berechnung im Persönlichen kann sich darauf berufen, dass es doch alle so machen, sogar in der Öffentlichkeit.

Auf seine Art ist Heideggers Vision der Mathematik ihrerseits berechnend. Er spricht das Vorverständnis der Berechnung an, das allgegenwärtig ist. Jedoch umgeht er die Frage, welche Macht mit dieser Berechnung verbunden ist. Statt von Macht spricht er von Denkweisen. Und er spricht alles das an, worauf die Berechnung kalkuliert: Sorge, Schuld und Tod

Die Verwandlung

Die Vorstellung einer Verwandlung durch die Mathematik ist neu. Bei den Griechen konnte mit der Mathematik nur gemessen werden, was in der Natur gesehen wurde, und daher spielte die Mathematik in den Naturwissenschaften kaum eine Bedeutung. Aristoteles und ihm folgend die empirische Naturforschung sah die Mathematik zwar als eine offene Frage, aber im normalen Forschungsprozess blieben sie eher bei Beschreibungen sinnlicher Eindrücke. Gerade wegen seiner Begeisterung für die Mathematik spürte Platon schon eher, was mit der Mathematik kommen konnte, und sprach seine berühmte Warnung im Höhlengleichnis aus. Wo er nach der Bedeutung der Zahlen suchte, so weniger, um mit der Mathematik etwas zu verwandeln, sondern um in den Zahlen Erkenntnisse zu gewinnen, die dem Denken eine Orientierung geben können. (Siehe den Teil über Allmacht der Zahlen).

In der hebräischen Tradition lassen sich eher Ansatzpunkte finden. Wenn in der Genesis Gott dem Menschen den Auftrag gab, die Tiere und Pflanze zu benennen (1.Mos 2,19), hieß das, ihnen Zahlen zu geben, oder noch direkter, ihren Zahlenwert zu erkennen, da in der hebräischen Schrift Buchstaben und Zahlen identisch sind. Die Zahlenmystik der Kabbala ging von den Zahlenwerten aus, die in den Worten enthalten sind, und suchte hier verborgene, innere Beziehungen. Wenn Gott dem Menschen die Sprache verliehen hatte, so kann das als das Vermögen verstanden werden, die Zahlenwerte zu erkennen.

Darüber hinaus sind nach biblischem Verständnis in der Tora dem Menschen durch die Zahlenwerte der geoffenbarten Worte tiefe mathematische Zusammenhänge mitgeteilt, wenn er es nur vermag, sie zu verstehen.

Aber auch hier kann nicht unbedingt von Verwandlung gesprochen werden, da einem Tier oder einer Pflanze einen Namen zu geben nicht unbedingt heißt, sie zu verwandeln. Doch ist dies der Vorstellung der Verwandlung deutlich näher, und daher ist gut zu verstehen, dass sich die Kabbala mit der Alchemie und ihrer Lehre der Verwandlung einfacher verbinden ließ als die griechische Tradition, die auf die empirische Naturforschung von Aristoteles zurückging.

Die verwandelnde Kraft der Mathematik ist jedoch in ganzem Umfang erst mit der modernen Wirtschaft der Neuzeit entstanden, als sich die Finanzunternehmer und Wirtschaftsberater zu den wahren "Goldmachern" mauserten. Als sich der Welthandel herausbildete, wurden seit der ausgehenden Renaissance die Bankhäuser die verborgenen Herrscher. Das begann in den norditalienischen Städten der Renaissance, wo sich das moderne Rechnungswesen entwickelte, allen voran Venedig und Genua, blühte auf in Augsburg (Fugger) und Antwerpen, verdrängte geradezu exemplarisch in Prag um 1600 unter Rudolf II alle anderen konkurrierenden Goldmacher, bis es schließlich mit der erfolgreichen Gründung der Bank von England seinen Siegeszug antrat, dem sich nichts in den Weg zu stellen vermochte und heute in der weltweiten Vorherrschaft von New York gipfelt.

Binswanger schildert, wie die Wirtschaft alles in Gold verwandelt. Ist die innere Verwandlungskraft, derer sich die Wirtschaft dabei bedient, nicht die Mathematik? Siehe dazu die Verwandlung von Gebrauchswerten in Tauschwerte.

Marx und Engels hatten als erste das ganze Ausmaß dieses Prozesses erkannt, wie bis heute unnachahmlich im "Kommunistischen Manifest" dokumentiert ist. Allerdings hatten sie dann in ihrem Anspruch nach Wissenschaftlichkeit allen Geruch alchemistischer Zauberei weit von sich gewiesen und waren darauf bedacht, die im Hintergrund wirkenden Mächte der Verwandlung als Teil des ideologischen Überbaus zu kritisieren und auf die wirklichen Prozesse zurückzuführen, die sich in der Entwicklung der Produktivkräfte zeigen. Den Fortschritt der Produktivkräfte verstand Marx im "Kapital" wiederum vor allem als Mechanisierung, Industrialisierung und Einsatz wissenschaftlicher Methoden, so dass auch er schließlich auf einem anderen Weg auf die Frage nach der Mathematik kam, ohne diese weiter zu verfolgen. (Seine "Mathematischen Manuskripte" blieben Studien über die Einführung der Differentialrechnung durch Lagrange.)

Die Mathematik sieht sich selbst aller Vorurteile frei. Aus gewissem Abstand ist jedoch zu erkennen, wie sich in ihrem Innern religiöse Begriffe durchsetzen. Konstruktion der Bewegung aus dem Unbewegten, "kleiner als klein" und "größer als groß", ubiquitär (Experimente sollen unabhängig von Zeit und Raum gelten und von jedem durchgeführt werden können).

Remo Roth versteht dies als Siegeszug des Neoplatonismus: Aus der Materie wird die Seele extrahiert, und dann wird sie unabhängig von der Materie oder der Materie gegenüber mit dem Geist zusammengeschlossen. Das gelingt nur mithilfe der Mathematik.

Welche Folgen hat das: In Zwangsträumen meldet sich das Unterdrückte. Und hier sind typisch: Träume von Rotationen, UFO-Entrückungen, sexueller Überschwemmung.

Ist dieser Verwandlungs-Prozess nun das Böse?

Hat Mathematik des Bösen die Hoffnung erweckende Doppelbedeutung, dass nicht nur das Böse mit der Mathematik arbeitet, sondern dass umgekehrt mit einer "Mathematik des Bösen" das Böse verstanden und ihm damit begegnet werden kann?

Heideggers Suche nach dem Anderen bewegt sich selbst innerhalb der Mathematik, wo das Eine und das Andere gegenüberstehen und mithilfe des Dritten das Vierte erzeugt werden kann.

Die systembildende Kraft

Mithilfe der Mathematik werden Erfahrungen aus der Natur und dem Leben so "verwandelt", dass sie der Wissenschaft zugänglich sind. Diese Kraft der Verwandlung scheint mir der Ansatz zu sein, wo die Mathematik an einem Schnittpunkt zu religiösen Fragen steht. Woher kommt diese Kraft, wie lässt sie sich in der Mathematik nachweisen, und wie wirkt sie bei der Systembildung bzw. negativ als destruktive Kraft, derer sich das Böse bedienen kann?

Verwandlung und neuer Anfang

In Platons Einsatz der Mathematik im Sophistes erfolgt eine ganz andere Verwandlung: Hier wird der Gegensatz Seiendes - Nichtseiendes verwandelt in das Multiplett von 5 Hauptbegriffen, wodurch eine krasse Gegenüberstellung polarisiert wird in 5 Begriffe, die sich wiederum in einer inneren Dynamik befinden.

Was kritisiert Heidegger daran: Die Lösung wird ganz auf der Seite der Objektivität gesucht, während eine Verwandlung mit diesem Anspruch nur gelingen kann, wenn sie die objektive Frage verwandelt in eine Frage, wodurch die Lichtung des Seins in den Blick kommt, wenn sie in diesem Sinn nach einem neuen Anfang sucht.

Entfesselt

Seit Kant wird das Böse nicht mehr ausgehend von der Sinnlichkeit, sondern als Eigenschaft des Geistes bewertet. Das war sicher schon immer angelegt, siehe die verführerische Sprache der Schlange in der Sündenfallgeschichte. Während aber für Kant die Vernunft das Gute garantiert und sich daher der Mensch für den Gebrauch der Vernunft entscheiden sollte, gab es schon in der Romantik eine massive Kritik gegen diesen Optimismus: Gerade weil der Wendung von Kant zugestimmt wird, dass die Vernunft für Gut und Böse verantwortlich ist, wird umgekehrt gesagt, dass es die Vernunft ist, wodurch das Böse keine Grenzen mehr kennt und in einem vorher unvorstellbaren Maß entfesselt werden kann. Die Geschichte des Kapitalismus kann unter diesem Aspekt neu gelesen werden. Es ist die "wirtschaftliche Vernunft", mit der alle Maßnahmen gerechtfertig werden.

Ist es die Mathematik, dank derer solche Entfesselung möglich wird? Ist diese Entfesselung die Kehrseite des Klein-Machens des Rechenhaften? War es diese Kraft der Entfesselung, die zuerst als systembildende Kraft auftrat?

Das ist die Existenzfrage der Mathematik: In der bloßen Existenz der Mathematik soll etwas umschlossen sein, wodurch die Lösung dieses Widerspruchs sichergestellt ist. Die im vorangehenden Teil zu Hölderlin und Novalis gestellte Frage ist damit deutlich verschoben: Dort ging es darum, dass die Poesie in der Mathematik ein Mittel findet, um ihre bloß "fiktiven" Einsichten mit der Natur verbinden zu können. Hier geht es umgekehrt darum, dass das Wissen von den Gesetzmäßigkeiten der Natur in der Mathematik die Auflösung der innersten Widersprüche findet.

"Golem"

Die Entgegensetzung Gewissheit - Wahrheit wird verstanden als Gegensatz dessen, was sich entzogen hat, und dessen, was sichtbar ist. Am entwickeltsten die Lehre von Israel Sarug, einem Schüler von Isaak Luria und Zeitgenosse von Kepler, Galilei und auch Rabbi Löw. Die Welt ist ein Gewand, gewebt aus Zahlen und Buchstaben, das sich zum Teil entzieht und zum Teil zugänglich ist. Die Mathematik kann grundsätzlich nicht axiomatisch sein, sondern alle von ihr erkannten Gesetzmäßigkeiten haben nur relativierten Geltungsanspruch. Eine axiomatische Mathematik würde wieder den Blick auf das Ganze reklamieren und daher ein im Innern wildes Denken verlangen. Innerhalb der Mathematik gewinnen die qualitativen Eigenschaften der einzelnen Zahlen eine viel größere Bedeutung. Eine solche Mathematik tendiert zu einer mathesis universalis oder auch Monadologie und kommt den Ansätzen von Leibniz am nächsten. Bei Leibniz haben sich gemischt: mathesis universalis enthält Ideen eines solchen Gewandes und auch noch axiomatische Ideen. Die Monadologie betont die Eigenständigkeit und innere Unendlichkeit der einzelnen Monaden, kann aber auch verführen zu einem hierarchischen Modell mit einer Zentralmonade. Dennoch gehen die Ideen von Leibniz am weitesten in diese Richtung.

These: Die Wandlungsmacht der Mathematik ist die innere Konsistenz des Gewandes, das Zusammenordnen, siehe immer wieder als Beispiel: Kepler.

Enthält das Unfertige Böses?

Double Bind und Böses: Ist die Frage nach der Auflösung des double bind die gleiche wie die nach Sein und Nicht-Sein, d.h.: muss etwas Umfassenderes gefunden werden, in dem es sich einordnen lässt, oder löst es sich von selbst, wenn das Ansprechen gelingt?

Double bind und die fehlende Religion: Ist das double bind ein individuelles Problem, ein Problem zwischen zwei Menschen, ein zeitgeschichtliches Problem (z.B. verstärkt seit 1945, aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in US, warum?) oder ein Problem seit der Auflösung des Glaubens? Hölderlins Frage nach dem göttlichen double bind. Beziehungsanalyse geht davon aus, dass durch systematische Aufklärung der systemischen Beziehungen alles aufgeklärt werden kann. Ist das wieder der Systemgedanke, dessen Krise am Anfang der Frage nach dem Bösen stand? Warum erhält er hier neue Popularität?

Literaturhinweise

© tydecks.info 2003