Walter Tydecks

 

7. Kein Schutz vor der Entmächtigung des Wortes

Hölderlin: eine zum Scheitern verurteilte Vision und kein Ausweg?

Hölderlin auf Mathematik-Visionen zur Zeit des Faschismus hin zu lesen bedeutet sicher etwas ganz anderes, als mit der gleichen Frage an Platon, Kepler oder Leibniz zu gehen. Er war kein Mathematiker und hat sich auch nicht wie Novalis oder Hegel intensiv mit Mathematik beschäftigt. Hier geht es um ein besseres Verständnis der tiefen Beunruhigung, die die Mathematik bei immer mehr Intellektuellen hervorrief und die zur Vorgeschichte des Faschismus gehört.

Zwei Beispiele, was gemeint ist: Robert Musil (1880 - 1942) war einige Zeit in einer österreichischen Elite-Schule ausgebildet worden und hatte dort die Generation kennen gelernt, die später Wortführer des Faschismus werden sollte. Schon 1902 begann er in "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" aufzuschreiben, was dort los war. Die Lehrer kommen einfach nicht vor. Kein Lehrer ist fähig zu einer "Seelenerziehung", wie sie z.B. noch wenige Jahrzehnte vorher Adalbert Stifter erfahren hat. Sie werden nicht ernst genommen. Die Schüler revoltieren nicht einmal gegen sie, nirgends auch nur eine Andeutung von "Feuerzangenbowlen"-Humor. Der Mathematiklehrer blamiert sich ebenso wie der Religionslehrer. Den Schülern fehlte jede Orientierung. Wenn überhaupt, fühlen sie sich verstanden in Gedichtzeilen wie "Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam" (Maeterlinck). Nur vor der Mathematik hatte Törleß "Respekt" und vor den "fürchterlichen Dingen", die da gedacht werden. Weiß sie eine Antwort auf das Irrationale und Imaginäre, auf das Transzendente, wo es doch irrationale, imaginäre und transzendente Zahlen gibt? Der Besuch bei seinem Lehrer wird eine einzige Enttäuschung. Die Mitschüler haben solche Fragen schon lange aufgegeben und verstehen sich als eine neue Generation, wie es noch kaum eine vor ihr gegeben hatte, mit einer Freude am hemmungslosen Quälen und dem Verlust jeder Selbstachtung, die ohnegleichen sind.

Alfred Baeumler war 7 Jahre jünger als Musil. Kunsthistorische Studien bei Wölfflin hatte er bald zugunsten der "strengeren Schule" des Neukantianismus aufgegeben. "In der Atmosphäre dieser Begriffsarbeit lebte ich auf." (Baeumler, "Mein Weg als Schriftsteller", S. 241). Offenbar suchte er in einer an der Mathematik orientierten Philosophie eine Klarheit und Lösung, die ihm sonst nicht geboten werden konnte. Doch dann kamen der erste Weltkrieg, die Schriften von Pfitzner, Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen", das Hegel- und Kierkegaard-Studium, und schließlich brach er seine logischen Studien ab. Unbewältigt blieb eine große Enttäuschung zurück. 1967 schrieb er im Rückblick:

"Ich stand im Banne einer Philosophie, die nichts anerkannte, was sich nicht auf logische Grundformen zurückführen ließ. Als ich einsah, dass aus der logischen Entwicklung der kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Form nichts zu gewinnen war, ließ ich die Arbeit liegen." (Baeumler, "Irrationalitätsproblem", S. 353)

Stattdessen entdeckte er mit Bachofen die chthonischen Mächte und das Mutterrecht, aber auch den Hass auf die Juden. Kurz vor seinem endgültigen Bekenntnis zum Nationalsozialismus hielt er 1931 ein letztes Mal Rückschau auf "die geistesgeschichtliche Lage im Spiegel der Mathematik und Physik", bevor er 1933 als Höhepunkt seiner Antrittsvorlesung in Berlin gemeinsam mit Goebbels die erste Bücherverbrennung organisierte und damit symbolisch nicht nur die politischen Gegner vernichten, sondern die gesamte überlieferte Tradition des Wortes auslöschen wollte.

Wie ist ein Ansatz zu finden, diese Tragödie zu verstehen, ohne bei psychiatrischen Deutungen oder dem Vorwurf hemmungslosen Machtwillens stehen zu bleiben? Wie sind Verständnis und Beschönigung auseinander zu halten? Hölderlin trifft den Punkt: Eine Tragödie hat die Worte zu finden, in denen "Gott in der Gestalt des Todes gegenwärtig ist" (Hölderlin, "Anmerkungen zur Antigonae", HSA 2, S. 373). Bei den Griechen waren das solche Worte, "wo das Wort den Körper ergreift, daß dieser tödtet" (ebd., S. 374). So geschah es Ödipus, den die bloßen Worte des Orakels, die er nicht verstand, gegen allen seinen Willen zum Töten des eigenen Vaters und in die Katastrophe trieben.

Dagegen gilt heute, dass  "das Wort  aus begeistertem Munde schreklich ist, und tödtet" (ebd.). Hier wird nicht mehr jemand mit Worten angesprochen und dadurch zum Töten verleitet, sondern die Worte, die jemand ausspricht, haben eine eigene tötende Macht, die sich dem Willen des Sprechenden entziehen oder sogar gegen ihn richten kann. Solche Worte haben sich verselbständigt, sind unberechenbar, treffen den, der sie wie unter Zwang ausspricht, ebenso wie den, der sie hören muss. Die Worte sind wie von einer aus der Fremde kommenden Macht von innen aufgeladen mit einem Eigengewicht, das eigene Wege geht. Der Redner kann nicht mehr mit rhetorischen Mitteln die Wirkung der Worte planen und einsetzen, sondern muss erleben, wie sie ihre eigene tötende Wirkung entfalten, die sich seiner Sprachmächtigkeit entzieht.

Wer auf diese Weise vom Wort überwältigt zu sprechen vermag, den kann entweder Entsetzen ergreifen bis zu verweifelten Versuchen, die eigene Sprachmächtigkeit wieder abzuschütteln und zu verstummen, oder er lässt sich berauschen von der Woge einer Macht, die ihn weit über die eigenen Möglichkeiten hebt und andere Menschen zu steuern und zu beherrschen erlaubt. Um hier einen Ausweg zu finden, will Hölderlin mit dem Mittel der Tragödie das Wort treffen und festhalten. Wenn das nicht gelingt, bricht die im Wort enthaltene tödliche Gewalt aus dem Wort aus und ist frei entfesselt, während die zurückbleibenden Worte leer, nichtssagend und bloße Worthülsen bleiben, mit denen keine Verständigung mehr möglich ist, sondern nur endloses Missverständnis und Streit, bis niemand mehr reden, lesen oder schreiben will.

Gegenüber Aristoteles hat sich die Bedeutung der Tragödie für Hölderlin nicht umgekehrt, sondern radikal erweitert: Es geht nicht mehr nur um Krankheit und Gesundung, sondern um Leben und Tod. Für Aristoteles bot die Tragödie die Möglichkeit, in kleinen, medizinischen Dosierungen große Gefühle auszudrücken und kathartisch zu reinigen. Bei Hölderlin entscheidet sich in der Tragödie, ob es dem Menschen gelingt, mit den Mitteln seiner Sprachmächtigkeit die richtigen Worte zu gestalten. Wenn das auf der Bühne misslingt, brechen die Worte mit ihrer tödlichen Macht in die Geschichte ein und es kommt zur wirklichen Tragödie, wie es dann in den Zeiten des Faschismus geschehen ist. Das ist die Gefahr der Entmächtigung des Wortes: Wenn es dem Dichter misslingt, die richtigen Worte zu finden und seine Tragödie scheitert, kommt es zur richtigen Tragödie.

Solche Worte, nach denen Hölderlin suchte, können nur gefunden werden, wenn die Tragödie aus dem rechten Geist geboren wird. Nietzsche hat das in gewisser Annäherung getroffen, als er von der "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" sprach. Später hat er im "Versuch einer Selbstkritik" gespürt, dass mit seinem Buch über die Tragödie das "Problem der Wissenschaft" überhaupt erst angesprochen war. Hölderlin hatte nach ersten Ideen für einen "Tod des Sokrates" in dem Naturphilosophen Empedokles die Gestalt gefunden, an der er zeigen wollte, wie das Wort verfehlt wurde. Dies in den richtigen Worten sagen zu können wäre die Lösung. Alle Entwürfe führten ihn jedoch nur immer wieder auf die Tragödien von Sophokles zurück und auf die Erkenntnis, dass für die Worte ein Grund gefunden werden muss, der weiter reicht, wo auch die Mathematik ihren Anfang nimmt, zum Beispiel ganz elementar vom "Zählen" her. Wenn das nicht gelingt, isoliert sich das Wort, und die Beherrschung der Sprachmächtigkeit verkümmert. Gegen diese Gefahr wird von der Mathematik ein Schutz erwartet. Es ist seine negative Mathematik-Vision, dass die Mathematik solchen Schutz nicht zu geben vermochte. Dies ist die Mathematik-Vision, um die es im folgenden gehen soll. Nicht nur Hölderlin hat dies gespürt, sondern alle, die ohne es weiter erklären zu können zunehmend von der Mathematik irritiert waren, am wenigsten allerdings die große Mehrheit der Mathematiker, die wie schon der Lehrer des Törleß die Mathematik nur als eine Sammlung von auswendig zu lernenden und ingenieurmäßig weiter zu entwickelnden Techniken ansehen.

Das Verhältnis der faschistischen Intellektuellen zu Hölderlin war gebrochen. Ihm fühlten sie sich viel näher als etwa den Klassikern Goethe und Schiller. Wurden sie vor sich selbst unsicher über ihr Bekenntnis zum Nationalsozialismus, genügte zu erinnern, was Hölderlin als Vaterlandsliebe verstanden haben soll. Aber passt ein Dichter zum Idol der Bewegung, der von der Französischen Revolution noch begeistert war, als alle anderen verbittert stumm wurden oder sich anzupassen begannen, und der ausgerechnet in dem Moment aufhörte vom Tod für das Vaterland zu schwärmen, als "Tod für das Vaterland" nicht mehr bedeutete, sich für republikanische Verhältnisse bis zur letzten Konsequenz einzusetzen, sondern für eine neu erstarkende nationale Idee? Mit Hölderlin ins reine zu kommen hätte für die faschistischen Intellektuellen bedeutet, sich ihren eigenen innersten Intentionen stellen zu müssen, und das war das letzte, was sie sich zutrauen konnten.

Der Zugang zu Hölderlin ist auch deshalb schwierig, weil die Lektüre vorbelastet ist durch die verschiedensten und fast immer problematischen Begeisterungswellen. Am Anfang standen die Wiederentdeckung im George-Kreis und seine Vereinnahmung für die nationalkonservativen und nationalsozialistischen Ideen. Dann folgten erst 1945 und nochmals nach 1968 weitere Renaissancen, fast immer verbunden mit einer Abwendung gegen Kant und die Aufklärung. Konsequenterweise wurden im gleichen Zug Leibniz und Kepler und die mit ihnen verbundenen Fragen weitgehend verdrängt, und die ganze Last, den Bruch in der deutschen Geschichte zu verstehen, wurde auf die Interpretation der Hölderlinschen Texte geladen. Als schließlich schon wenige Jahre nach 1968 alles in Desillusion umschlug, schien die Schwer-Verständlichkeit der Hölderlinschen Texte am besten der eigenen Verunsicherung und Enttäuschung gerecht zu werden, zumal er ja 1794 in Jena eine vergleichbare Situation erlebt hatte.

Hölderlin schien die Möglichkeit zur Aussöhnung mit den verblendeten Vätern zu geben, ohne ihnen wirklich nahe gehen zu müssen. So wie diese sich in der Stunde der persönlichen Selbstrechtfertigung im Zweifel auf Hölderlin zurückzogen, glaubte die nächste Generation bei Hölderlin im Reich der Poesie eine Ebene zu finden, um wenigstens hier zu einem Verständnis für das Tun und Denken der Väter und ihrer Todessehnsucht zu kommen, und zugleich einen Ort der Besinnung und Abgeschiedenheit zu finden, nachdem auch der Schwung der eigenen Jugendtaten ausgelaufen und enttäuscht war. Das ging alles viel zu schnell und zu oberflächlich, und so droht Hölderlin ein weiteres Mal zu scheitern.

In wenigen Worten lässt sich vielleicht zusammenfassen: Die Neuinterpretation in den 1950er und 1960er Jahren wollte zeigen, dass im Grunde bereits Hölderlin den Weg gegangen ist, um aus der faschistischen Faszination hinauszufinden. Heidegger, Otto und anderen Hölderlin-Interpreten wurde daher nahegelegt, Hölderlin nur konsequenter zu lesen, dessen Weg zu folgen und sich so aus der faschistischen Verblendung zu lösen. Ihrer Meinung nach waren sie bei der Lektüre Hölderlins an einem bestimmten Punkt stehen geblieben und hatten nicht dessen letzte Arbeiten berücksichtigt, insbesondere auch die letzten Versionen seiner großen Gesänge. Daher entging ihnen "der späte Widerruf" (Jochen Schmidt), mit dem Hölderlin seine eigene Entwicklung umkehren wollte. Hölderlins Enttäuschung über den Gang der Geschichte und die heute übrig gebliebenen Möglichkeiten des Einzelnen, in der Gemeinschaft mit anderen glücklich zu werden, wurde subjektiviert zu einer wachsenden Angst verrückt zu werden.

Es darf nicht vergessen werden, dass 1950 - 70 die Täter des Nationalsozialismus noch lebten und auch im Bereich von Kunst und Wissenschaft wieder auf breiter Front in führende Positionen eingerückt waren als wäre nichts gewesen. Diese Selbstverständlichkeit und erst recht die Selbstgerechtigkeit, mit der sie das eigene Engagement in den Zeiten des Nationalsozialismus nachträglich als "verlorene Jahre", als Opfer gegenüber den Zeitläufen der Geschichte sahen statt als Tat und Schuld, übte auf alle Nachfolgenden eine ungeheuer lähmende Wirkung aus, die sich im weiteren von Generation zu Generation eher noch steigert. Diese Gefahr war bereits abzusehen, und so klang die neue Hölderlin-Lektüre geradezu wie ein Flehen an die Eltern-Generation, doch bitte bei Hölderlin zu lernen, dass ein "später Widerruf" möglich ist, und endlich ein Einsehen zu haben. Wie bekannt prallte das ungehört ab an einer Mauer des Schweigens und Zusammenstehens.

Aber sind die faschistischen Intellektuellen wirklich mit Hölderlin vergleichbar, so sehr sie ihn im Munde führten? So weit ich sehe, hat sich keiner der neuen Hölderlin-Interpreten wirklich mit der Hölderlin-Begeisterung im Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Warum wird z.B. Kurt Hildebrandt geradezu totgeschwiegen? Weil er aussprach, womit keiner sich wirklich auseinandersetzen wollte? Weil er den Überzeugungen der eigenen Väter zu nahe kam?

Trotzdem lohnt es, die Arbeiten von Kerényi, Gaier, Jochen Schmidt, Henrich, Szondi, Pöggeler und dessen Umfeld zu lesen, wobei Kerényi als dem Älteren die vermittelnde Rolle zukam. Auch wenn es ihnen nicht gelungen ist, die verstockte Haltung der faschistischen Intellektuellen aufzulösen, haben sie die Fragen sehr deutlich gestellt. Und inwiefern sie persönlich von den hier angesprochenen Konflikten berührt waren oder nur eine Zeitströmung aussprachen, muss ohnehin offen bleiben. Erst in den 1990er Jahren kam es zu einer deutlichen Zäsur, und es ist wie ein Aufatmen, wenn etwa Theresia Birkenhauer den "Tod des Empedokles" oder Helmut Hühn das Gedicht "Mnesomyne" völlig neu verstehen und von aller Todes-Romantik befreien wollen.

Schließlich bleibt ein letzter Punkt. Die Bewältigung der Vergangenheit ist auch daher so schwer gefallen, weil mit der "Dialektik der Aufklärung" von Adorno und Horkheimer zu früh gültige Antworten gegeben schienen. Gemessen an ihrem Buch war eine offene Klärung der Fragen, die von den faschistischen Intellektuellen aufgeworfen wurden, praktisch nicht mehr möglich. Ganze Themen und Wissenschaftsgebiete wurden für tabu erklärt statt bestimmte Antworten zu kritisieren. Zu glatt wurde mit Etiketten wie Anti-Semitismus, Verblendungszusammenhang, Jargon gearbeitet. Zu einfach war es, diese Art von Kritik zurückzuweisen, oder im geschickten Gegenzug sich an die Spitze dieser Kritik zu setzen, um die eigene Beteiligung am Faschismus zu vertuschen. Dafür gibt es inzwischen genügend Beispiele gerade auch von prominenten Vertretern und "Botschaftern der Frankfurter Schule". Es geht nicht um eine falsche Schonung in der Sache und im Urteil. Aber es ist ein anderes Verständnis von "Dialektik der Aufklärung" zu entwickeln, wodurch all diese Fragen neu gestellt werden können. Das Thema war richtig gewählt, und das allein genügte als Anziehungskraft für dies Denken. Dass Dialektik der Aufklärung viel mehr und anders mit Mathematik zu tun hat, als es das Buch von Adorno und Horkheimer nahelegt, wo Mathematik kaum von Positivismus und Unterwerfung unter das "instrumentelle Denken" zu trennen ist, wird sich ebenfalls zeigen. Und was ist davon zu halten, dass sich trotz aller maßlosen Polemik Adorno und Horkheimer nirgends so gut mit ihren vermeintlichen Gegnern verstehen wie in der Ablehnung der Mathematik? Das gehört selbst zur Dialektik der Aufklärung.

Spuren und böse Pfade

Als die Aufklärung ihren Höhepunkt erreicht hatte und alle Fragen der Natur und ihrer Strukturen offen vor dem Menschen zu liegen schienen, wagte Leibniz den Gedanken, dass es die Spuren in der Natur sind, denen die Vernunft folgen kann. Die Bewegungsfreiheit liegt beim Wissenschaftler, der mit offenem Blick die Spuren übersieht und ihnen folgt. Und es sind die Spuren, die ihm die Sicherheit der Orientierung geben, um den Weg des Fortschritts zu halten. Leibniz konnte es wagen, hier an die Spuren des sich aus der Welt zurückziehenden Gottes zu denken, dessen Licht die Spuren für den Menschen sichtbar hält, auch wenn die Lichtquelle dem Menschen verschlossen bleibt. Den Spuren folgend ist dem Menschen eine großartige Zukunft versprochen. Völlig konträr dichtet Hölderlin:

"Aber bös sind
die Pfade. Nemlich unrecht,
wie Rosse, gehn die gefangenen
Element' und alten
Geseze der Erd. Und immer
ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist
zu behalten. Und Noth die Treue.
Vorwärts aber und rükwärts wollen wir
nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie
auf schwankendem Kahne der See."
(Hölderlin "Mnemosyne", HSA 2 S. 437, vgl. auch FHA 7, S. 381 bzw. FHA 8, S. 739, siehe auch Quelle im Internet)

Hölderlin war sich der Nähe zu den Fragestellungen von Leibniz deutlich bewusst. Ungefähr zur gleichen Zeit suchte er in den Tragödien des Sophokles nach dem "kalkulablen Gesetz" oder "gesetzlichen Kalkul", für Jochen Schmidt "jenes Prinzip beinahe mathematischer Maße in den Sophokles-Anmerkungen." (Schmidt 1978, S. 181). Mit dem "kalkulablen Gesetz" wollte Hölderlin verstehen, wie Sophokles seine Tragödien so hat bauen können, dass sie ein inneres Gleichmaß bewahren. Die richtigen Worte zu treffen ist nur möglich, wenn sie an der richtigen Stelle stehen und im richtigen Verhältnis zum Gang der Tragödie. "Aber bös sind die Pfade" bedeutet umgekehrt, wenn der Tragödien-Dichter von einer inneren Unruhe getrieben die Handlung so ablaufen lässt, dass die richtigen Worte nicht herauskommen und das Anliegen scheitert. Hölderlin hatte das in seinen eigenen misslingenden Entwürfen zum "Tod des Empedokles" schmerzlich gespürt.

Noch deutlicher ist der Bezug zu Leibniz und zur Mathematik im Brief an Leo von Seckendorf vom 12. März 1804, aus dem Jochen Schmidt zitiert:

"Ich bin begierig, wie sie (die pittoresken Ansichten des Rheins) ausfallen werden; ob sie rein und einfach aus der Natur gehoben sind, so daßs an beiden Seiten nichts Unzugehöriges und Unkarakteristisches mit hineingenommen ist und die Erde sich in gutem Gleichgewicht gegen den Himmel verhält, so daß auch das Licht, welches dieses Gleichgewicht in seinem besonderen Verhältniß bezeichnet, nicht schief und reizend täuschend seyn muß. Es kommt wohl sehr viel auf den Winkel innerhalb des Kunstwerks und auf das Quadrat außerhalb desselben an." (zitiert nach Schmidt 1978, S. 180, siehe auch Hölderlin, HSA 2, S. 928)

Hier ist im Keim eine eigene Vision der elementaren Zahlen angelegt: Die Zwei steht für das Wechselspiel zweier Elemente, die sonst in ihren eigenen Sphären verbleiben, hier das Wellenspiel von Wind und Wasser. Andere Beispiele sind die Flamme, wenn Feuer und Luft zusammenkommen oder das Aufscheinen von Licht auf Gestalten der Erde. Die Drei ist der Sichtwinkel oder Blickwinkel. Ein objektiver Prozess, an dem immer zwei Seiten direkt beteiligt sind, wird von einer dritten Seite aus gesehen. Im Winkel werden die Erscheinungen gebündelt. Der Blickwinkel wird nur in dem Maß etwas sehen lassen können, wie er auf die richtige Entfernung und die richtige Auflösung eingestellt ist und dadurch das Maß der von ihm zu fassenden Wellenlänge trifft, sich auf diese Wellenlänge "einspielt". Wird nach einer umfassenden Einheit alles dessen gesucht, was gesehen werden kann, und wird eine innere Einheit der verschiedenen Blickwinkel gesucht, öffnet sich mit der Vier der Blick in die Weite des Quadrats. Der Blick wird gewissermaßen passiv und wandelt sich in die Aufnahmebereitschaft. Im Extremfall öffnet sich die gerade gewonnene Subjektivität völlig in einen osmotischen Prozess. Das Quadrat ist wie die Linse oder Parabolantenne eine Öffnung, ein "Fenster", mit dem ein Raum geschaffen werden soll, um alles "einfangen" zu können. Es ist zugleich aber auch ein Filter, um die äußeren Eindrücke so aufnehmen zu können, dass sie das wahrnehmende und sich weiter entwickelnde Subjekt nicht zerstören. Die qualitativen Eigenschaften des Quadrats sind daher am ehesten zu vergleichen mit der Haut. Maße von Offenheit und Geborgenheit. Die Fünf: Aus dem freien Wechselspiel der Elemente, dem Blickwinkel und der Aufnahmefähigkeit entsteht - wenn alles gut geht - das Belebende. Maße von Leben und Tod, von Wildheit und Geborgenheit.

Hier wird nicht auf die gewohnte Weise gezählt. Das Buch der Natur ist nicht in dem Sinne in Mathematik geschrieben, dass einfach ein unendlich langer Zahlencode entschlüsselt werden muss oder die Formen der Natur mit Lineal und Zirkel konstruiert sind. Sondern mathematische Visionen entstehen, wenn es gelingt, dass "Ansichten rein und einfach aus der Natur gehoben sind". Das innere Band der Zahlen ist nicht die Zahlengerade oder Zahlenreihe, sondern das Band zwischen den Gesetzen der Erde und dem kalkulablen Gesetz.

Hölderlin führt hier nicht nur die Fragestellung von Leibniz fort, sondern eine viel ältere Tradition der Philosophie. Dem ist niemand so bis ins Detail nachgegangen wie Ulrich Gaier. Er versteht das kalkulable Gesetz als einen "Kursus", wonach die Erkenntnis über 7 eigenständige Stufen durch etliche Schwierigkeiten und Abwege gehen muss, bis sie zur Vollendung findet. Die Texte von Hölderlin, auf die sich etwa Otto und Heidegger berufen, versteht Gaier daher so, dass Hölderlin hier bewusst Extrempositionen darstellen wollte, die durchlaufen und überwunden werden müssen. Und Hölderlin war sich ganz im Gegensatz zu Hegel sehr wohl bewusst, dass es keineswegs eine gewissermaßen automatische Notwendigkeit gibt, immer den Weg über die Anti-These oder die Nachtseite zum klärenden Höheren zu finden. Vielmehr hatte er wachsende Angst, in diesem Prozess zu scheitern, und der Ausbruch seiner Krankheit hat gezeigt, dass er dem schließlich nichts mehr entgegenzusetzen vermochte.

In der Deutung durch Ulrich Gaier sind die bösen Pfade gewissermaßen eingeschlossen in das kalkulable Gesetz. Sie müssen durchlaufen werden, bevor schließlich die höchste Stufe erreicht werden kann. Sie können allerdings eine Eigendynamik gewinnen und den, der diesen Wegabschnitt geht, völlig aus der Bahn bringen und scheitern lassen. Das ist den faschistischen Denkern geschehen. Im Ganzen befindet sich Hölderlin dann doch in Übereinklang mit Leibniz, wenn das kalkulable Gesetz als die übergreifende Konstruktion verstanden wird. So verstehe ich den inneren Gedankengang von Ulrich Gaier.

Die bösen Pfade beziehen sich aber auf die "alten Gesetze der Erde". Diese haben als Gesetze gleichen Rang mit dem "kalkulablen Gesetz". Das Böse der Pfade kann nicht verstanden werden als eine notwendige Stufe des kalkulablen Gesetzes, sondern nach Hölderlin hat es seine eigene Kraft aus der Erde und den Elementen. Darauf berufen sich explizit die Intellektuellen des Faschismus wie Baeumler, Heidegger und Otto, und dagegen bleiben die Argumente von Gaier wirkungslos.

Ohne Zweifel wünscht sich Hölderlin nichts sehnlicher als die Anwendung und Durchsetzung des kalkulablen Gesetzes. Daher sein Bemühen, dies Gesetz in den Tragödien des Sophokles zu erkennen und es selbst zu ergreifen. Aber die Bedrohung dieses Gesetzes hat eine eigene Gesetzeskraft. Sie ist nicht einfach wie ein feindliches Heer dem kalkulablen Gesetz gegenüber aufgestellt, sondern bricht von innen los. Gerade dann, wenn die Aufklärung zu Erfolgen kommt und sich ganz sicher fühlt, verliert sie ihr Maß, "weil das Wissen, wenn es seine Schranke durchrissen hat, wie trunken ... sich selbst reizt, mehr zu wissen, als es tragen oder fassen kann" (Hölderlin, "Anmerkungen zum Oedipus", HSA 2, S. 312). Bilder für diesen Umschlag sind der reißende Strom, die sich verzehrende Flamme, der ausbrechende Wahnsinn.

Wenn sich das kalkulable Gesetz und das Gesetz der Erde gegenseitig aufzureiben drohen, stellt sich die Frage nach dem Maß ganz anders: dann muss das Maß vermitteln zwischen diesen beiden Gesetzen. Auf den ersten Blick scheint das Maß auf der Seite des kalkulablen Gesetzes zu stehen und dort das Kalkulieren überhaupt erst zu ermöglichen, während die Erde die ungebundene Kraft vertritt, die jedem Maß spottet. Gibt es dennoch etwas, was zwischen diesen beiden Seiten vermittelt? Darauf geht alle Hoffnung, es könnte das innere Band der Zahlen sein, und dies ist das wichtigste Thema des Grund zum Empedokles.

Das Gegeneinander von Erde und Kalkül kann auch verstanden werden als Gegensatz von Erde und Himmel, wie es im Brief an Seckendorf zitiert ist. Alle Perspektiven und logischen Ebenen sind unmittelbar aufeinander bezogen und reflektieren einander: die lokale kräuselnde Bewegung des Wassers (der Wasseroberfläche, wie sie Hölderlin beim Blick auf den Rhein erscheint), die darunter liegende Kraft des Stroms, die Spiegelung des Lichts im Wasser, das Verhältnis von Erde und Himmel, die sich im Wasser spiegeln bzw. durchscheinen und so einander treffen, und schließlich die Gesetze des Kunstwerks selbst (nach innen und außen), mit dem dies alles dargestellt werden kann.

Um das "einzufangen", musste Hölderlin nicht nur die geeigneten Bilder, sondern für die Sprache einen neuen, mehrdimensionalen Raum finden. Was geschah in seinen späten Gedichten? Kaum mehr ist von Gedichten oder Gesängen zu sprechen, sondern von "Folio-Heften", in denen verschiedene Gedicht-Entwürfe ineinander geschrieben sind, Verszeilen von einem Gedicht ins andere wechseln. Sie sind regelrecht übersät von Überarbeitungen. Die zitierten Zeilen aus "Mnemosyne" sind eins der deutlichsten Beispiele. Hölderlin blättert im Heft vor und zurück, um die unterschiedlichen Versionen einzutragen, gegen andere Gedichtentwürfe zu stellen und dort ihre Wirkung zu ermessen. Manche Seiten enthalten auch einfach nur eine Überschrift.

So entsteht die Idee eines völlig neuen Verständnisses von Sprache. Die unterschiedlichen Versionen lassen sich nicht mehr sequentiell lesen, indem ein Entwurf dem nächsten folgt und über viele Korrekturen hinweg schließlich eine gültige Endfassung entsteht. In den Überschreibungen, wo ein Wort, eine Zeile, ein Bild durch zahlreiche andere ersetzt und gekreuzt wird, entsteht die Idee einer neuen Dimension. Im linearen Text wird nach einer zusätzlichen Dimension gesucht, indem gewissermaßen nach innen jeder Begriff, jede Zeile und jedes Gedicht eine neue Bedeutungsvielfalt erhält. Und nicht nur jeder einzelne Begriff wird dadurch vielfach gebrochen und mehrfach gedeutet, sondern auch der syntaktische Zusammenhang der verschiedenen Begriffe. Hölderlin schreibt schier endlose Sätze, deren äußerer Halt immer brüchiger wird, die wie vorsichtig geflochtene Netze wirken, über unsicheren Boden gespannt. Das gilt für die späten Gedichte nicht anders als für seine aphoristischen philosophischen Entwürfe, die ganz im Gegensatz stehen zu den gehämmerten, befehlsartigen Fragmenten der Vorsokratiker. Wenn Kristeva bei den französischen Dichtern wie Mallarmé von einer "Revolution der poetischen Sprache" spricht, ist dies schon enthalten bei Hölderlin. Wo Leibniz versucht hat, das gesamte enzyklopädische Wissen in einer mathesis universalis zusammenzutragen und diese auf allgemeingültige Urworte und Urzahlen zu gründen, sucht Hölderlin nach einem Raum aus Sprache und Bildern, der an jeder Stelle und im Ganzen in Bewegung gehalten ist von den gegeneinander wirkenden Gesetzen der Erde und des Kalkuls. Das ist seine Frage an die Mathematik und hier sucht er ihre Unterstützung.

Chiron und Empedokles

In der herkömmlichen Mathematik gibt es zunächst sicher kein Verständnis, was es überhaupt soll, mit einem solchen Anliegen zu kommen. Das ist weit entfernt von typisch mathematischen Aufgabenstellungen wie z.B. der Vermutung von Fermat, dass die Gleichung xn + yn = zn mit x,y,z,n ganzzahlig für n > 2 keine Lösung hat, oder der Frage nach der Gleichmäßigkeit der Verteilung der Primzahlen. Von der Lösung solcher Fragen wird viel neues technisches Verständnis erwartet, das auch an anderer Stelle genutzt werden kann. Niemand, der von der Mathematik begeistert ist, wird sich der Faszination solcher Fragen entziehen können, und doch soll es hier um etwas ganz Anderes gehen. Im Grunde soll für das mathematische Fragen eine ganz neue Richtung gewonnen werden, und möglicherweise wird sich am Ende auch die Frage nach der Anwendbarkeit und dem Nutzen völlig neu stellen. All das soll zunächst bewusst offen gehalten werden.

Mit dem Verlust des Maßes waren die alten Elemente entfesselt. Das ist von einer Gewalt, die Hölderlin nur in den Bildern der ursprünglichen Entstehung der Natur fassen kann, wenn Ströme aufbrechen und sich ihren Weg bahnen. Bilder, die aus der vorklassischen Periode der Antike genommen sind. Selten ist die Sprachgewalt so in Worte gefaßt wie in der folgenden Übersetzung und dem anschließenden Kommentar zu einem Fragment von Pindar, das Hölderlin "Das Belebende" nennt.

"Die männerbezwingende, nachdem
Gelernet die Centauren
Die Gewalt
Des honigsüßen Weines, plötzlich trieben
Die weiße Milch mit Händen, den Tisch sie fort, von selbst,
Und aus den silbernen Hörnern trinkend
Bethörten sie sich.

Der Begriff von den Centauren ist wohl der vom Geiste eines Stromes, so fern der Bahn und Gränze macht, mit Gewalt, auf der ursprünglich pfadlosen aufwärtswachsenden Erde.

Sein Bild ist deswegen an Stellen der Natur, wo das Gestade reich an Felsen und Grotten ist, besonders an Orten, wo ursprünglich der Strom die Kette der Gebirge verlassen und ihre Richtung quer durchreißen mußte.

Centauren sind deswegen auch ursprünglich Lehrer der Naturwissenschaft, weil sich aus jenem Gesichtspunkte die Natur am besten einsehn lässt.

In solchen Gegenden mußt' ursprünglich der Strom umirren, eh' er sich eine Bahn riß. Dadurch bildeten sich, wie an Teichen, feuchte Wiesen und Höhlen in der Erde für säugende Thiere, und der Centauer war indessen wilder Hirte, dem Odyssäischen Cyklops gleich; die Gewässer suchten sehnend ihre Richtung. Jemehr sich aber von seinen beiden Ufern das troknere fester bildete, und Richtung gewann durch festwurzelnde Bäume, und Gesträuche und den Weinstok, desto mehr mußt' auch der Strom, der seine Bewegung von der Gestalt des Ufers annahm, Richtung gewinnen, bis er, von seinem Ursprung an gedrängt, an einer Stelle durchbrach, wo die Berge, die ihn einschlossen, am leichtesten zusammenhingen.

So lernten die Zentauren die Gewalt des honigsüßen Weins, sie nahmen von dem festgebildeten, bäumereichen Ufer Bewegung und Richtung an, und warfen die weiße Milch und den Tisch mit Händen weg, die gestaltete Welle verdrängte die Ruhe des Teichs, auch die Lebensart am Ufer veränderte sich, der Überfall des Waldes, mit den Stürmen und den sicheren Fürsten des Forsts regte das müßige Leben der Haide auf, das stagnirende Gewässer ward so lange zurükgestoßen, vom jäheren Ufer, bis es Arme gewann, und so mit eigener Richtung, von selbst aus silbernen Hörnern trinkend, sich Bahn machte, eine Bestimmung annahm.

Die Gesänge des Ossian besonders sind wahrhaftige Centaurengesänge, mit dem Stromgeist gesungen, und wie vom griechischen Chiron, der den Achill auch das Saitenspiel gelehrt." (Hölderlin, "Das Belebende", HSA 2, S. 384f)

Salvador Dalí (1904 - 1979) hat beeindruckende Zeichnungen der Kentauren angefertigt, so z.B. die Lithographie "The Centaure de Crete". Für ihn gibt es eine innere Beziehung zwischen den Kentauren und der engen Verbundenheit von Don Quijote und seinem Pferd Rosinante. Siehe: Google Bilder

In den Kentauren leben Esel und Pferd weiter und mischen sich mit dem Menschen. Es ist überliefert, dass sie Menschen bei der Überquerung von Strömen helfen können. Sie erkennen deren Untiefen und ihre gefährlichen, verborgenen Strömungen (Iason hat von Chiron diese Fähigkeit gelernt, als er Hera sicher über einen Strom geleitete). Sie haben ein Gespür für Furten. Auch in anderen Kulturen war diese Fähigkeit der Pferde lange bekannt und entsprechend verehrt (siehe hierzu den Kommentar des I Ging zum "Empfangenden", d.h. mathematisch zur Zwei, und die verwandte Intuition zur "Zwei" zur Zeit des Mutterrechts).

Aber die Kentauren haben keinerlei Distanz zu den Kräften der Natur, sie leben noch unmittelbar in der ursprünglichen Wildheit der Natur. Auf sie beziehen sich die Zeilen "Aber bös sind die Pfade. Nemlich unrecht, wie Rosse, gehn die gefangenen Element' und alten Geseze der Erd". Die ganze Geschichte der Menschheit kann gelesen werden als der Versuch, sie im Zaum zu halten und zugleich ihre Kraft und ihr urtümliches Wissen nicht zu verlieren. In diesem Sinn versteht Hölderlin all die Fortschritte und Rückschläge in der Geschichte der griechischen Tragödie, des Christentums, des Mittelalters und der Aufklärung, schließlich der für ihn enttäuschenden Wende der französischen Revolution und ihrer Ableger in Deutschland.

Mitten unter den Kentauren lebte Chiron. Waren sie noch völlig von der unbändigen Kraft der Entfesselung geprägt, stellt er den Umschlagpunkt zur Naturwissenschaft dar, die in der Lage ist, Maße und Harmonie in der Natur zu erkennen, wobei in dieser frühen Phase Erkenntnis und Herstellung kaum zu unterscheiden sind. (Es ist zu erinnern an die thessalischen Sümpfe, in denen die Wege und die Sprache entstanden. Thessalien wurde von den Griechen der Welthälfte des Chiron zugerechnet. Siehe hierzu Kérenyi "Hermes der Seelenführer".) Hölderlin dichtet die Ode "Chiron" als Variante des "blinden Sängers". So wie "der blinde Sänger" auf das Hören angewiesen ist und etwas Neues, Ankommendes hört und mit seinem Gesang zum Ausdruck bringen kann, so hat Chiron ein "offenes Ohr" für die Natur und die von ihr getriebenen Kentauren und ihnen folgend die Heroen, und er vermag es umzusetzen in die elementaren Kulturtechniken. Jochen Schmidt hat genau den kritischen Punkt getroffen.

Chiron hatte mitten in diesem Prozess gestanden und hatte daher die Möglichkeit, ihm eine Richtung zu geben. Er verkörpert die Position, auf die es Hölderlin ankommt: die Mitte zu treffen, in der die Lebendigkeit der Kentauren erhalten bleibt und die Gesetze des Kalküls gewahrt werden. Das ist ihm nicht gelungen (siehe dazu ausführlicher Ariadne und die Anfänge der griechischen Mathematik). Nie kann bei den mythologischen Figuren nach den Gründen gefragt werden, denn sie selbst sind die Gründe. Es kann nicht gefragt werden, warum Chiron keinen Erfolg hatte, sondern Chiron in seiner ganzen Fülle zu verstehen ist bereits die Antwort, wie solches Misslingen zu erklären ist. Und zum Glück ist Chiron nicht rundum gescheitert. Er vermochte den Heroen und über sie den Menschen die wesentlichen Kulturtechniken weiter zu geben, wie z.B. das Saitenspiel, die Medizin, die Kräuterkunde, und seine Besonnenheit bleibt Trost und Vorbild in kritischen Situationen.

"Ich wünschte, Chiron der Phillyride,
Wenn ziemend es dieß von unserer Zunge
das Gemeinsame auszusprechen das Wort,
Daß leben möchte der Abgeschiedne,
Der Uranide, der Sohn weit-
Waltend des Kronos
Und in den Thälern herrschen des Pelion
Das Wild das rauhere,
Deß Gemüth ist Männern hold; als welcher
Er aufzog vormals
Den Künstler der Schmerzlosigkeit
Den freundlichen der starkgegliederten Asklepios,
Den Heroen, der vielgenährten Bezwinger der Seuchen."
(Pindar, 3. Pythische Ode, Übersetzung von Hölderlin, HSA 2, S. 212)

Für die Späteren stellt sich die Lage völlig anders. Empedokles war für Hölderlin der erste, der keine mythologische Figur mehr ist, sondern in der Geschichte der Menschheit stehend die Naturwissenschaft begründen wollte, und er ist der erste, bei dem es möglich ist, nach seinen Motiven und den Gründen seines Scheiterns zu fragen. Ungefähr 495 v.Chr. geboren war er etwa 80 Jahre jünger als Pythagoras, Zeitgenosse von Perikles und Sophokles und etwa 25 Jahre älter als Sokrates. Er trat als Arzt und Sektengründer auf, tendierte zur demokratischen Bewegung und wurde bekannt durch seine vielfältigen Entwürfe zur Grundlegung der Naturwissenschaft. Er war der erste, der eine "Tafel" der vier Elemente schuf und ihr außer Rand und Band geratenes Maß neu bannen wollte. Während noch für die Pythagoreer und auch für Platon jede Zahl etwas Einzigartiges war, schuf er das Urbild der zugleich formalen und naturbeobachtenden, experimentellen Naturwissenschaft. Die grundlegenden Bewegungsprinzipien sah er wie Heraklit in der Polarität von Streit und Liebe. Weiter wurde er bekannt durch eine eigenwillige Porentheorie. Danach befinden sich auf der Oberfläche der Dinge zahllose kleine, unsichtbare Poren, durch die äußere Kräfte einwirken. Das war der erste Versuch, eine Erklärung für die Wirkungsweise des Magnetismus zu finden.

Die Kentauren, Chiron und Empedokles zeigen die einzelnen Stufen, wie mit dem Umschlag vom Mythos in die Geschichte der Menschheit die Naturforschung entstanden ist. Muss betont werden, dass der Übergang von Mythos in Geschichte nicht einfach ein historischer Prozess war, der ungefähr im Jahr 1200 v.Chr. stattgefunden haben mag, verbunden mit Ereignissen wie dem Kampf um Troia oder die Belagerung von Jericho ("Landnahme"), der massenhaften Verbreitung von Waffen dank der Eisentechnologie, sondern jederzeit gegenwärtig ist als Spannung von Natur und Kunst (Kronos und Zeus, El und Jahwe, Streit und Liebe)? Die Zeit ist wie das Zählen keine einfache Gerade, sie kann sich ebenso sehr "kehren", wie in einer neueren Vorstellung der Raum gekrümmt ist. Die Kentauren, Chiron und Empedokles sind immer gegenwärtig und stehen für verschiedene Seiten einer mehrdimensionalen Zeit. Dies zu verstehen läuft auf die gleiche Frage hinaus, für die Worte und ihre inneren und äußeren Zusammenhänge einen erweiterten Raum zu finden.

Austausch des Aorgischen und Organischen - die Tragödie des Empedokles

Hölderlin wandte sich Empedokles zu und wollte gemäß dem Vorbild von Sophokles dessen Tragödie schreiben. Möglicherweise war der Anlass jedoch auch die Auseinandersetzung mit Kant, den Hölderlin jahrelang studiert und im Brief an den Bruder am 1.1.1799 den "Moses unserer Nation" genannt hatte, "der sie aus der ägyptischen Erschlaffung in die freie einsame Wüste seiner Speculation führt" (Hölderlin, HSA 2, S. 726). Er sah, dass Kant darum rang und zu scheitern drohte, für die Naturforschung eine vergleichbare "bürgerliche Ordnung" zu schaffen, wie es die frühen Städtegründer Griechenlands für ihre Polis versucht hatten.

Die Gründung der Naturforschung und die Gründung der deutschen Nation sind eigenartig verflochten, ebenso ihre Tragödie. Wenn eine Gemeinschaft sich gründet, will sie ihren Ort in der Welt finden, ihr Verständnis der "Mitte des Seienden" fassen, wie Heidegger den Begriff der Polis deutet. Er spannt den Bogen vom Politischen zur Natur - von der "Polis" als der Stadt zum "Polaren" und der Polarität im Sinne von physikalischen "Polen", Wirbeln oder Brennpunkten. Für ihn ist pelein der ursprüngliche Begriff des Seins, "das Beständige und der Wechsel" (Heidegger "Hölderlins 'Ister'", S. 100, 118). Ihr Verständnis der "Mitte des Seienden" ist der höchste Beitrag, den eine Gemeinschaft für die Menschheit leisten kann. Jede Gemeinschaft und sogar jeder einzelne Mensch muss sich seiner eigenen Sphäre bewusst werden. Misslingt das, dann droht das innere Gleichgewicht auseinander zu brechen und das fehlende Selbstbewußtsein in Größenwahn und Anmaßung umzuschlagen, sich selbst über die anderen Völker zu stellen. Genau das ist in Deutschland im Verlauf des 19. Jahrhunderts geschehen und zeigte sich in der Vorgeschichte des Faschismus in der wachsenden Unruhe über die Mathematik nicht weniger als in dem entartenden Nationalismus.

Kant war in der deutschen Entwicklung der Wendepunkt. Als es nicht gelang fortzusetzen, was er beginnen wollte, schlugen ihm erst eine Mischung von Faszination und Ablehnung und schließlich schroffe Vorwürfe entgegen. Oft wird die Kritik an seinem "Zwangscharakter" in eins gesetzt mit dem politisch motivierten Aufbegehren gegen zügellose Tyrannei, z.B. Antigones Widerspruch gegen die Willkür König Kreons. Hölderlin wollte dagegen den Gefährdungen der Philosophie von Kant auf den Grund gehen, sie freilegen und so die Freiheit gewinnen, dem drohenden Bersten seiner Philosophie eine Bewegungsrichtung zu geben. Mit einem Wort: Er wollte Kant von Empedokles her verstehen bzw. bei Empedokles zeigen, wie die Gründung einer neuen Gemeinschaft und der Naturforschung fehlschlagen kann. Während Hildebrandt wie auch all die "Kulturkritiker" Hölderlin zum Gegenpol gegenüber der von Kant bestimmten Aufklärung erklären wollen und sagen, dass in Kant eine Erstarrung angelegt ist, die es mithilfe der Ideen von Hölderlin aufzubrechen gilt, spürte der die Kraft der Aufbrechung, die Kant von innen zu sprengen droht, und will sie verstehen und in Maße bringen, damit die von Kant eingeleitete Aufklärung nicht das gleiche Schicksal erleidet wie die eines Ödipus und Empedokles.

Die Texte Grund zum Empedokles bewegen sich - bewusst oder weil nicht anders möglich - an der Grenze der Verstehbarkeit. Sie müssen Wort für Wort interpretiert werden und zeigen auch dann die von Hölderlin immer schmerzlicher empfundene Grenze, wie es nicht möglich ist, die Mehrschichtigkeit der Sprache zu verstehen und zu gestalten. Ich möchte hier nur den einen Punkt herausgreifen, wie Hölderlin den tragischen Umschlag von aorgischer Natur und organischem Menschen sieht. (Zu weiterführender Literatur siehe Sieglinde Grimm.)

"Soll es erkennbar seyn, so muß es dadurch sich darstellen, daß es im Übermaaße der Innigkeit, wo sich die Entgegengesetzten verwechseln, sich trennt, daß das Organische das sich zu sehr der Natur überließ und sein Wesen und Bewusstsein vergaß, in das Extrem der Selbstthätigkeit und Kunst und Reflexion, die Natur hingegen wenigstens in ihren Wirkungen auf den reflectirenden Menschen in das Extrem des aorgischen des Unbegreiflichen, des Unfühlbaren, des Unbegrenzten übergeht, bis durch den Fortgang der entgegengesetzten Wechselwirkungen die beiden ursprünglich einigen sich wie anfangs begegnen, nur daß die Natur organischer durch den bildenden cultivirenden Menschen, überhaupt die Bildungstriebe und Bildungskräfte, hingegen der Mensch aorgischer, allgemeiner, unendlicher geworden ist." (Hölderlin "Grund zum Empedokles", HSA 1, S. 868).

Ein erstes Verständnis erschließt sich von der Schlussfolgerung: Am Ende ist die Natur organischer geworden und der Mensch aorgischer. Aorgische Natur verstehe ich als die Wildheit der Natur, wie sie etwa in der Geschichte der Kentauren geschildert wurde. Wie ist es zu der Verwechslung gekommen: Die Natur übt "Wirkungen auf den reflectierenden Menschen" aus und treibt ihn dadurch in das Aorgische. Umgekehrt verändert sich die Natur "durch den bildenden cultivierenden Menschen" und wird dadurch organischer. Das Organische und das Aorgische haben sich zwischen Mensch und Natur ausgetauscht. Diese Bewegung kann daher auch als "Fortgang der entgegengesetzten Wechselwirkungen" bezeichnet werden.

Aber wer ist der Handelnde, und was geschieht eigentlich? Nirgends spricht Hölderlin von Aufklärung oder Erkenntnis. Das Organische und das Aorgische wirken aufeinander ein und tauschen ihre Plätze. Das Aorgische wechselt von der Natur zum Menschen, das Organische vom Menschen zur Natur. Das scheint aber kein bewusster Prozess zu sein, sondern in genau gewählter Doppeldeutigkeit spricht Hölderlin vom "Übermaaße der Innigkeit, wo sich die Entgegengesetzten verwechseln". Bevor sie von der Natur zum Menschen bzw. vom Menschen zur Natur übergehen, sind sich das Aorgische und das Organische so nahe gekommen, dass sie sich selbst verwechseln. Vom Organischen sagt Hölderlin ausdrücklich, dass es "sein Wesen und Bewusstsein vergaß".

Die Handelnden sind nicht die Natur und der Mensch, sondern das Aorgische und das Organische. Sie kommen sich näher, verlieren in der Innigkeit das Maß ihrer Wechselwirkung und tauschen dadurch ihre Plätze.

Wird das Aorgische als das Gesetz der Erde verstanden und das Organische als das kalkulable Gesetz, so stoßen diese Gesetze nicht einfach im Menschen aufeinander und bestimmen dessen Handeln, sondern das menschliche Handeln verläuft immer auf mehreren Ebenen oder Schichten zugleich. Es hat immer einen geschichtlichen Anteil, in dem er handelt und "Geschichte macht", und einen mythischen Grund, aus dem diese Gesetze wirken. Das ist ganz in dem Sinne gedacht, wie in Homers Epos vor Troia nicht nur die Menschen gegeneinander kämpfen, sondern ebenso die Götter. Dies Denken ist auch dem Alten Testament nicht fremd, wenn dort der Gott der Hebräer direkt in die geschichtliche Befreiung seines Volkes von den Ägyptern oder in die Kämpfe zur Vertreibung der Bevölkerung in Kanaan eingreift (Buch Josua). Er greift dabei sogar in das Wirken der Naturgesetze ein und mobilisiert damit Kräfte, die sonst nur den längst besiegten Urgewalten zugesprochen wurden.

Die Differenz des Aorgischen und Organischen steht quer zum Sprach-Verlauf und zieht sich sowohl durch jedes einzelne Wort wie den Zusammenhang der Worte. Von Entmächtigung des Wortes ist dann zu sprechen, wenn dieser Austausch blockiert und abschüssig wird. Umgekehrt ist es das höchste Anliegen der Tragödie, diesen Austausch in seiner freien Bewegung zu zeigen beziehungsweise Störungen im Austausch zu erkennen und durch die gelungene Darstellung zu heilen.

In der Geschichte der Menschheit wurde bis zur Neuzeit davon ausgegangen, dass nur ausgewählte Menschen solchen Kampf auf sich nehmen können und in aller Regel am Ende mit dem eigenen Leben zu zahlen haben. Während Ödipus als Gründer der Stadt Theben buchstäblich blind in dies Schicksal läuft, will Hölderlin in der Tragödie des Empedokles zeigen, welche neuen Züge die Tragödie annimmt, wenn der Mensch beginnt zu verstehen, was geschieht. Ödipus lebte noch im Mythos vor der Tragödie. Der Gründungsakt von Theben ist historisch nicht zu datieren. War Theben nicht schon da, also insofern schon gegründet, als Ödipus dort einzog? Und doch kann mit gutem Recht von der Gründung durch Ödipus gesprochen werden, als er die Stadt vom Bann durch die Sphinx befreite. Die zeitliche Abfolge ist weniger wichtig, wo es um die Befreiung von den vorgefundenen Mächten und die Schaffung einer neuen bürgerlichen Machtordnung geht.

Es war die Geburt der Tragödie, als das im klassischen Athen verstanden wurde. Ist seither überhaupt noch eine vergleichbare Gründung möglich, nachdem die Geschichte an die Stelle des Mythos getreten zu sein scheint? Können noch mythische Gestalten wie Ödipus auftreten? War nicht die Geburt der Tragödie der nachvollzogene Gründungsakt der Geschichte selbst? Oder ist umgekehrt das durch den griechischen Gründungsakt entstandene Übergewicht der Geschichte über den Mythos die wahre neue Krankheit? Ist seither die Mordlust auf die Worte übergegangen und droht die Sprachmächtigkeit auszutreiben? Hölderlin stellte sich zeitlebens diese Fragen. Hier sieht er die neue Art von Tragödie, die erstmals an Empedokles zu zeigen ist und deren Wiederholung er für Deutschland befürchtet.

Das Christentum gab die Antwort, dass erst mit Jesus die Zeitenwende eingetreten ist. Mit dieser Antwort fand sich Hölderlin nie ab. Und so steht Empedokles exemplarisch für den ersten Gründer in der Menschheitsgeschichte, dessen Tragödie nicht im nachhinein geschrieben wird, sondern der sich dieser Tragödie von Anfang an bewusst ist. Für Empedokles gilt beides: Seine Aufgabe ist, innerhalb der dem menschlichen Bewußtsein zugänglichen Geschichte die Wissenschaft zu gründen, aber er wird von seiner Zeit als Gründer im Sinne der mythologischen Stadt-Gründer, der politischen Heroen verstanden bzw. missverstanden.

Hölderlin will darstellen, welche Voraussetzungen Empedokles mitzubringen hatte, damit die Gründung der Wissenschaft möglich wird.

"Diß war der Zauber, womit Empedokles in seiner Welt erschien. Die Natur, ... erschien mit allen ihren Melodien im Geiste und Munde dieses Mannes und so innig und warm und persönlich, wie wenn sein Herz das ihre wäre, und der Geist des Elements in menschlicher Gestalt unter den Sterblichen wohnte." (ebd., S. 874f).

Wenn Erde und Himmel einander gegenüberstehen - wie im Rhein-Gedicht von Hölderlin dargestellt -, dann ist Empedokles nichts weniger als die Menschwerdung der Erde (der "Natur", des "Geist des Elements"). Damit verkörpert er den genau entgegenlaufenden Weg zu Jesus, der Menschwerdung Gottes, den Auftritt Gottes auf der Erde. Sein höchstes Gelingen wäre es, dem Menschen ein Verständnis der Natur und der Elemente zu geben, das zwar deren Kraft spürt, sich aber zugleich von dem drohenden Einbruch des Aorgischen nicht überrennen lässt und den Einbruch der Wildheit in das eigene Denken auszuhalten und auszugleichen versteht.

In der Geschichte der Naturwissenschaft gilt die Lehre von den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer als der Beitrag von Empedokles. Die Elemente in eine solche Ordnung zu bringen war sein Gründungsakt der Wissenschaft. Empedokles hat die Elemente aufgezählt, hat sie mit der Aufzählung auf vier Elemente begrenzt, und diese Elemente in eine symmetrische Ordnung gebracht. Diese Ordnung entspricht den vier Himmelsrichtungen und den vier Weltgegenden. Kant hat diesen Ansatz aufgenommen und ihn in seiner Begründung der reinen Vernunft weitergeführt, als er die Tafel der vier Kategorien aufstellte (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) und darauf seine Philosophie gründete. Hölderlin bezieht sich darauf, wenn er im Brief an Seckendorf vom "Quadrat außerhalb des Kunstwerks" spricht.

Während das Schicksal Jesu darin bestand, dass der menschgewordene Gott den Tod auf sich nimmt und erst in seinem Tod dem Menschen nahe ist, ist der "Tod des Empedokles" die Frage nach den Verführungen, wie die Menschwerdung der Erde und der Elemente misslingen kann. Birkenhauer hat gezeigt, wie Hölderlin diese Verführungen in den drei Entwürfen seiner Tragödie immer bewusster gestaltet hat.

Ein beeindruckendes Bild des Empedokles schuf der Maler József Baksai (geb. 1957). Siehe z.B. Link

Im dritten Entwurf sehnt sich Empedokles zurück zum Untergang in die Natur, zum Sprung in die Flamme des Vulkans. Das ist der klassisch überlieferte Selbstmord des Empedokles, dessen Schuhe am Kraterrand des Ätna auf Sizilien gefunden wurden. In der nächsten Szene will sein Lieblingsschüler Pausanias ihn als den Heroen sehen, der Kronos (die Natur) und die unter den Ätna gezwungenen Titanen durch seinen Heldentod wieder mit Zeus (der Kultur) versöhnt. Und schließlich tritt sein alter Lehrer auf, der ägyptische Weise Manes, und versteht ihn als einen Messias im Sinne der alt-orientalischen Weisheit, der an Konsequenz Jesus sogar noch übertrifft, wenn er nach seiner erfolgreichen Bekehrung der Menschen freiwillig in den Tod geht statt sich von den Menschen vergöttern zu lassen.

Dreimal ist die Frage nach dem Tod gestellt: Sehnsucht und Zurückfallen in das Element ("dem Feuer entgegen"), heroisches Opfer, souverän aus dem Leben scheidender Messias. Dies sind drei mögliche Wege, wie das Aorgische in die Gründung der Naturforschung einbrechen und sie überfluten kann.

Hölderlin gestaltet Empedokles in seinen Entwürfen immer selbstsicherer und stärker gegenüber den Verführungen, bis er in seinem letzten Entwurf allen Verführungen zu widerstehen vermag. Und dennoch scheitert er, weil er sein Anliegen den Menschen nicht vermitteln kann.

"Das Schicksaal seiner Zeit ... erforderte ein Opfer, wo der ganze Mensch, das wirklich und sichtbar wird, worinn das Schicksaal seiner Zeit sich aufzulösen scheint, wo die Extreme sich in Einem wirklich und sichtbar zu vereinigen scheinen, eben deswegen zu innig vereiniget sind, und in einer idealischen That das Individuum deswegen untergeht und untergehen muß." (ebd., S. 872)

Damit die Menschen ihn verstehen können, muss Empedokles zu weit gehen. Die Menschen können ihn nur verstehen, wenn er ein Beispiel gibt, als könne er mit einer idealischen Tat die Extreme auflösen, so wie Alexander den gordischen Knoten durchhauen und Kolumbus das Ei aufgeschlagen haben. Auf die Gründung der Naturforschung bezogen verstehe ich das so: Seine Lehre konnte von den Menschen nur verstanden werden, wenn sie als dogmatische Lehre erscheint und vorgetragen wird. Wo es ihm darum ging, das Gesetz der Elemente, das für sich auf "böse Pfade" drängt ("unrecht, / wie Rosse, gehn die gefangenen / Element'"), nicht zu konfrontieren mit einem entgegengesetzten Gesetz, das in der Konfrontation nur machtlos wäre, sondern durch ein neues Verständnis der 4 Elemente in einem offenen und freien System zu lösen und zugleich festzuhalten, wurde dies missverstanden als starres Gesetz, als Dogma, das unwiderlegbaren göttlichen Anspruch hat.

Die Elemente des Empedokles werden missverstanden, wenn sie wie die geometrischen Grundfiguren Gerade und Kreis bei Euklid, die Partikel und ihre Bewegungsgesetze in der klassischen Mechanik oder die Elementarladungen der Elektrizität gesehen werden, aus denen alles andere axiomatisch gefolgert werden kann (was im übrigen der Naturwissenschaft ohnehin nie gelingen wird). Seine Elemente sind besser zu verstehen im Sinne der Sphären Kierkegaards. Sie sind zu deuten, so wie sich ein Mensch "in seinem Element" befinden kann, in seiner "eigenen Sphäre" seinen Gott findet, wie Hölderlin im "Fragment philosophischer Briefe" die Religion verstanden hat.

Und doch sind sie insofern auch wieder mehr als solche Sphären, da sie genau das richtige Maß und den richtigen Zusammenhang treffen müssen, damit sie nicht bloße Vision bleiben, sondern sich aus ihnen eine experimentell anwendbare Naturforschung entwickeln lässt. Die moderne Chemie glaubt, mit ihrem periodischen System der Elemente die Naivität von Empedokles weit hinter sich gelassen zu haben. Nachdem Empedokles früher in dogmatischer Weise missverstanden und seine Lehren absolut gesetzt wurden, erscheint später umgekehrt seine Lehre nicht frei von mythischen Vorstellungen und einer gewissen Engstirnigkeit und Dogmatismus. Ihm wird jetzt vorgeworfen, wie seine Ideen früher von seinen vermeintlichen Anhängern entstellt und gelehrt wurden. Von beiden Seiten wird das Anliegen des Empedokles missverstanden, der genau die rechte Mitte treffen wollte. In Wahrheit war er der erste Naturforscher und nicht etwa Parmenides mit seinen Paradoxien des Einen. (Von großem Interesse ist allerdings, wie Platon im Timaios und Aristoteles in der Physik diese Fragen aufgegriffen und weitergeführt haben.)

Wie die Kentauren sich um Chiron scharen, schaut das Volk auf Empedokles, sieht dessen außergewöhnliche Fähigkeit und wünscht ihn zum Führer. Wie die Kentauren ihrer Wildheit müde von Chiron ihre Bändigung erhoffen, wünscht auf eine andere Art das Volk von Empedokles eine "idealische That", durch die ihm Schutz und Sicherheit gegeben wird. Die Heldentat soll zu einer heroischen Gründung führen, so wie die griechischen Heroen Städte gegründet haben, und möglicherweise sogar so, wie die Menschen in der Urzeit sich selbst zum Namen den Turm von Babel zu bauen angeschickt hatten.

Das ist die Tragödie von Empedokles: "Das Schicksal seiner Zeit", der als erster Gründungsheros nicht mehr in der mythischen Zeit, sondern der geschichtlichen Zeit auftritt und mit der Gründung der Naturwissenschaft ein neues Verständnis der Zeit gründen soll, wird für ihn zur Tragödie. Es verhindert nicht nur, dass seine Fähigkeiten zur Geltung kommen können, seine Fähigkeit zum Gesang und zur "eigentlichen Tat". Sondern im Unterschied zu Ödipus ist er sich seiner Situation bewusst. Er weiß, dass das, was von ihm erwartet wird, nur in den Untergang führen kann. Das Volk wird den Untergang überleben, wenn auch zurückgeworfen in Sprachverwirrung und blinden, gegenseitigen Hass. Von ihm würde aber, wenn er täte, was von ihm erwartet wird, nicht einmal das Bild der Hoffnung übrig bleiben für künftige Zeiten. Daher bleibt ihm nur der Ausweg in Rückzug und Einsamkeit, in letzter Konsequenz in den Tod, wobei der Deutung von Birkenhauer folgend "Tod" als Preisgeben seiner Lebensmöglichkeiten verstanden werden kann und nicht als Selbstmord oder heroisches Opfer. Diesen Verführungen hatte sich Empedokles gewachsen gezeigt.

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen an seiner Sicht des Empedokles, charakterisiert Hölderlin auf den letzten Seiten des Grund zum Empedokles dessen Gegner, der ihn zur heroischen Tat verführen will:

"Zum Helden geboren, ist er nicht sowohl geneigt, die Extreme zu vereinigen, als sie zu bändigen, und ihre Wechselwirkung an ein Bleibendes und Vestes zu knüpfen, das zwischen sie gestellt ist, und jedes in seiner Gränze hält." (ebd., S. 877)

Der Gegner des Empedokles - und keineswegs Empedokles selbst! - will das "Bleibende und Veste", zum Beispiel eine Stadt, einen Staat mit architektonischen Symbolen seiner Macht und Wehrkraft, oder auch eine dogmatische Naturforschung, um die Gegensätze durch Abgrenzung zu sichern. Obwohl zum Held geboren, ist der Gegner des Empedokles dazu selbst nicht in der Lage und braucht Empedokles mit seinen Fähigkeiten, um diese Rolle auszufüllen.

Zählen der Zeit

Auch wenn Empedokles' Gründung der Naturforschung nicht verstanden wurde, ist damit die Vision einer Mathematik nicht aufgegeben, die solche Gründung möglich machen kann. Die Geschichte der Naturforschung spricht allerdings dagegen. In immer neuen Anläufen wird nach dem vollkommenen System "letzter Elemente" und ihrer symmetrischen Ordnung gesucht, um zu vollenden, was Empedokles misslungen sei, seien dies nun die Atome des Demokrit, die Massepartikel der Mechanik, die chemischen Elemente des periodischen Systems von Mendelejew, die Elementarteilchen, Quarks, verschleifte Strings oder Partonen. Die Natur soll als ein durchsichtiger und lückenloser Mechanismus kleinster Bausteine verstanden werden, deren Anordnung und Regeln es mathematisch darzustellen und zu optimieren gilt.

Hölderlin wollte in eine andere Richtung. Zu seiner Zeit schien es für einen Moment zum Greifen nahe, dass die Gründung der Naturforschung im Gründungsakt der deutschen Nation gelingen könnte. Leibniz hatte alles vorbereitet. Kant schien dicht vor dem Abschluss zu stehen. Und dann lief die Französische Revolution aus dem Ruder, und die autoritären Kräfte der Vergangenheit vermochten sich wieder zu sammeln. Da wandte sich Hölderlin von Naturphilosophen wie Empedokles ab und zog sich auf Sophokles zurück. Bei ihm fand er in Antigone eine Figur, die einen völlig anderen Weg ging und doch auf die gleiche Frage stieß, den Austausch des Aorgischen und Organischen. Während aber Empedokles dem Volk fremd blieb, vermag Antigone die übermenschliche Spannung auszuhalten, bis sie vom Chor verstanden wird. Wie das möglich war, das ist für Hölderlin die entscheidende Frage. Er will diese Worte des Chores auf seine Zeit beziehen und scheut sich nicht, sie radikal umzuschreiben.

Während durch Empedokles die Erde spricht, und es seine Aufgabe ist, diese Sprache an die Menschen weiter zu geben, wendet sich Antigone von den Schrecken der politischen Ordnung der Menschen ab und den Gesetzen der Erde und der Wildnis zu. Ihr Bruder ist vor Theben gefallen, und sein Leichnam bleibt schutzlos dem Fraß der Hunde und Vögel hingeworfen und darf nicht bestattet werden. Das macht die Vögel irre und aus ihrem Flug lässt sich kein Orakel mehr deuten. Ist das nicht ein treffendes Bild für die Lage, in die heute die Naturforschung und die Mathematik geraten sind? Sie vermag nur noch, die von ihr in gewaltigen Forschungsanlagen beobachteten Erscheinungen auszuzählen, aber nicht mehr zu verstehen.

Der neue König Kreon will mit dieser Demütigung exemplarisch jedes Andenken an die Vergangenheit auslöschen und darüber eine neue bürgerliche Ordnung durchsetzen. Antigone nimmt bewusst den eigenen Tod in Kauf, als sie diesen Frevel bricht und sich ausdrücklich auf die höheren Gesetze der Totenwelt und der Liebe beruft, einer Liebe, die nur möglich ist, wenn sie auch die Liebe zu den Verstorbenen ist. Sonst schlägt sie um in Hass.

Kreon hat in Theben ein Regime errichtet, wie es von Empedokles erwartet worden war. Er hat die tiefe Angst vor der Wiederkehr des Aorgischen, das in Ödipus und im Bruderkampf seiner Söhne offen ausgebrochen war, für seine eigenen Ziele genutzt, um im Versuch einer totalen Aussperrung des Aorgischen für sich eine tyrannische Stellung zu sichern. Aus seiner Sicht waren schon zu lange die untergründigen Kräfte der Titanen entfesselt, wogegen er die königliche Ordnung wieder herstellen und garantieren wollte.

Kreon beruft sich gegenüber seinem Sohn Hämon, dem Verlobten Antigones, auf das Recht der Väter, der Männer, der Herrscher, des heiligen Orts, der Ordnung und schließlich auf seinen "Uranfang", dem "ich treu beistehe". Da widerspricht Hämon: "Das bist du nicht, hältst  du nicht heilig Gottes Nahmen"  (Hölderlin, "Anmerkungen zur Antigonae", HSA 2, S. 371). An dieser entscheidenden Stelle hat Hölderlin eingegriffen. Wo er "Gottes Nahmen" einsetzt, weicht er bewusst vom Text des Sophokles ab. Wortgetreuer wäre "der Götter Ehre" zu übersetzen.

"Es war wohl nöthig, hier den heiligen Ausdruk zu ändern, da er in der Mitte bedeutend ist, als Ernst und selbständiges Wort, an dem sich alles übrige objectiviret und verklärt." (ebd.)

Wenn Kreon sich auf die Treue gegenüber dem "Uranfang" beruft, hält Hämon ihm vor, diese Treue muss sich darin zeigen, dass "Gottes Nahme" heilig gehalten wird, und Hölderlin unterstreicht, dass sich dann "alles übrige" durch dieses "selbständige Wort ... objektiveret und verklärt". Was ist Gottes Name und wie ist ihm die Treue zu halten? Wo die Griechen von Zeus sprechen, sucht Hölderlin nach einer geeigneten Übersetzung, die heute verständlich ist. Gottes Namen treu zu bleiben heißt, den heiligen Ausdruck zu finden, von dem aus in der eigenen Zeit alles andere verständlich wird.

Kreon beruft sich nicht auf Zeus, sondern auf den "Uranfang" und lässt damit bewusst in der Schwebe, ob er diesem "Uranfang" genau so nahe ist wie Zeus. Er verletzt damit nicht nur die Ehre der Götter, sondern er verschweigt ihren Namen und entzieht sich dem Dialog mit ihnen. Dadurch verliert die Sprache ihre Verankerung, und er kommt ohne es selbst zu merken auf eine Bahn, dass alle seine Worte entgleiten. Sie haben von Anfang an einen eigenen Ton der Selbstüberheblichkeit und Selbstgerechtigkeit, und er zeigt sich unfähig, mit Antigone, Teiresias oder Hämon ein offenes Gespräch zu führen.

Während Hämon die Überheblichkeit seines Vaters begreift und ihr entgegentritt, nimmt Antigone dessen Übermut auf und lässt sich auf ihre Art davon mitreißen. Sie vertritt nicht nur die Rechte ihres Bruders, und sie wirft dem Kreon nicht nur dessen Treulosigkeit vor. In einer Welt, in der Könige wie er die Gesetze machen und durchsetzen können, spürt sie die Ferne der Götter, ihre eigene und deren Verlassenheit, und setzt sich in "erhabenem Spott" (ebd.) anderen Göttinnen gleich, die ebenfalls gegen Zeus aufbegehrt hatten und dafür bestraft worden waren.

"In hohem Bewußtseyn vergleicht sie sich dann immer mit Gegenständen, die kein Bewußtseyn haben, aber in ihrem Schiksaal des Bewußtseyns Form annehmen. So einer ist ein wüst gewordenes Land, das in ursprünglicher Fruchtbarkeit die Wirkungen des Sonnenlichts zu sehr verstärket, und darum dürre wird. Schiksaal der Phrygischen Niobe; wie überall Schiksaal der unschuldigen Natur, die überall in ihrer Virtuosität in eben dem Grade ins Allzuorganische gehet, wie der Mensch sich dem Aorgischen nähert, in heroischeren Verhältnissen, und Gemüthsbewegungen." (ebd., S. 371f)

niobefelsen

Der weinende Felsen, ein Bild von Niobe am Mount Sipylus in der Westtürkei. Urheber: By Carole Raddato - https://www.flickr.com/photos/carolemage/18548112254/, CC BY-SA 2.0, Link

In solchen Verhältnissen ist die Welt nicht mehr zu verstehen. Niobe hatte mit ihren 14 Kindern gegenüber Leto aufgetrumpft, die nur zwei Kinder zur Welt gebracht hatte, Apollon und Artemis. Das blieb nicht ungesühnt, alle ihre Kinder wurden gnadenlos getötet, und sie selbst wurde in einen weinenden Stein verwandelt. Antigone vergleicht sich mit diesem Stein, den die Maßlosigkeit einer göttlichen Rache traf. Dessen Schicksal war das Schicksal eines Bewusstseins, das sich den Göttern zu nahe gefühlt und von ihnen zu reich beschenkt gesehen hatte und darüber gestürzt war. Solch ein Bewusstsein trifft gerade die besonders fruchtbare Natur. Diese Natur vermag mehr Früchte zu spenden als andere. Während die weniger fruchtbare Natur eher zurückgezogen bleibt und dadurch besser vor der Fülle des Lichts geschützt ist, überschätzt diese starke Fruchtbarkeit sich selbst. Sie glaubt sich den Göttern nahe und von ihnen geliebt. Sie meint, sich dem vollen Licht aussetzen und höchste Früchte tragen zu können. Dadurch geht jedoch die schützende Distanz verloren, und das Sonnenlicht wird unermesslich gesteigert, statt gebrochen (polarisiert) und ins Erträgliche gebracht zu werden, bis die höchste Fruchtbarkeit (das "Allzuorganische") umschlägt in Dürre und Verwüstung. Wer denkt hier nicht an Nietzsches Aufschrei des Zarathustra: "Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt!"

Das gleiche Schicksal trifft den eher männlich gedachten Heroismus, wenn ein Mann mit heroischen Kräften seiner Wildheit freien Lauf lässt und sich stark wie ein junger Gott fühlt. Das ist das Schicksal von Kreon, dem es auf dem Schlachtfeld gelungen war, dem Bruderzwist in Theben mit militärischer Gewalt zu beenden, der aber dann in falschem Stolz die Götter herausgefordert hat, als er weiter gehen und stellvertretend für Zeus dem Tod und der Erinnerung entgegentreten wollte. Damit gibt er den Namen Gottes auf, verliert seine Sprachmächtigkeit und fällt zurück in das "Aorgische".

Auf eine unausgesprochene Art verstehen Kreon und Antigone einander, ohne sich nahe kommen zu können. Während Niobe zur Strafe versteinert wurde, lässt Kreon Antigone lebendig in ein Steingrab mauern, um sie dort im Reich der Toten verkümmern zu lassen. Das ist seine Art von Hohn und Machtmissbrauch. Aber dies öffnet dem Chor die Augen für den ganzen Zusammenhang, der sowohl Kreon wie Antigone verschlossen bleibt. Den Chor erinnert das an Danae, die in einen bronzenen Turm eingemauert wurde. Und wieder weicht Hölderlin von einer wörtlichen Übersetzung ab:

"Sie zählete dem Vater der Zeit / die Stundenschläge, die goldnen. statt: verwaltete dem Zeus das goldenströmende Werden". (ebd., S. 372)

Hier ist an Danae gedacht, die in ihrem Verlies von Zeus durch einen Goldregen befruchtet wurde.

Dies kann der Regen sein, der in die Dunkelheit des Bodens und der Nacht eingehen muss, bevor dort die kommende Frucht keimen kann. Das kann auch eine List des Zeus gewesen sein, um vor Hera einen seiner Seitensprünge zu verbergen. Es kann naturphilosophisch verstanden werden, dass ein Gott wie Zeus der Erde bedarf, damit das Werden am Leben erhalten werden kann. Der Konflikt von Zeus und Kronos ist umgedeutet zu einer göttlichen Hochzeit zwischen dem Gott des Lebens und der Göttin der Erde und des Todes.

Hölderlin übersetzt den Namen "Zeus" mit "Vater der Zeit". Danae zählt dem "Vater der Zeit" die Stundenschläge. Es geht also darum, dass die Zeit geboren wird, dass Zeus zum Vater der Zeit wird. Zeus hat mit Danae die Zeit gezeugt. Bevor sie zur Welt kommen kann, muss die Zeit gezählt werden. Das ist Hölderlins "Modernisierung" der älteren Vorstellung, dass Zeus Danae mit dem Goldregen befruchtet hat, und sie in ihrem Verlies diese Frucht "hütet", dass die Frucht geschützt als Keimling aufwachsen kann, bevor sie zur Welt kommt.

Die Zeit muss gezählt werden, damit sie im Mutterleib gebildet und geboren werden kann. Dieses Zählen der Zeit gibt der Zeit ihren Charakter. Zählen ist kein immer-gleiches Weiterzählen, sondern jeder Zählschritt ist ein kleiner Fortschritt im Reifungsprozess. Jeder Schritt baut auf dem vorigen auf und wiederholt ihn nicht nur, sondern führt ihn weiter. Wenn Danae die Zeit im Reifungsprozess zählt, erhält im Ergebnis die Zeit schließlich die Eigenschaft der Zählbarkeit, und die Zahlen erhalten den Charakter einer Zeit, die aus der Liebe Danaes zu Zeus entstanden ist - und aus der Verwandlung des griechischen Zeus in den neuzeitlichen Vater der Zeit. Jede Zahl erinnert an eine Stufe der Entstehung der Zeit und die Gefühle, die Danae und Zeus mit der gemeinsamen Schaffung der Zeit verbinden. Jede Zahl zeigt an, wie sich die Zeit als eigenständiger Embryo zu regen beginnt und von Danae und Zeus freudig begrüßt wird.

Zeus kann diese Eigenschaft der Zahl und der Zeit nicht bilden. Dafür braucht er Danae. Und sie tut dies nicht für sich selbst, sondern sie zählt "dem Vater", also für Zeus, damit sein Kind, "die Zeit", geboren werden kann.

Erst von ihr wird Zeus richtig verstanden, und ihr Verständnis geht über auf die Zeit und die Zahlen. Sie versteht ihn als den

"Vater der Zeit oder: Vater der Erde, weil sein Karakter ist, der ewigen Tendenz entgegen,  das Streben aus dieser Welt in die andere  zu kehren  zu einem Streben aus einer andern Welt in diese" (ebd.).

Die so entstehende Zeit wird dem Menschen erträglich. Sie ist weder eine "tragischmäßig zeitmatte" noch eine "reißende Zeit", weil es sich hier nicht um die Zeit zum Tode, sondern um die Zeit zur Geburt hin handelt. Lebt der Mensch in einer solchen Zeit, kann der Wunsch des Zeus wirklich werden, dass sich die Menschen nicht in den Tod wenden, sondern umgekehrt von der Todessehnsucht weg in das Leben. Damit gelingt Danae, was Niobe in ihrer Selbstüberschätzung misslungen ist: Während Niobe ihre Fruchtbarkeit stolz übertreibt, bleibt Danae im Dunkeln, lässt die Zeit reifen, so dass Zeus zum "Vater der Zeit" werden kann.

In einem Akt äußerster Selbstverleugnung treibt Kreon Antigone in ein Verlies, das dem von Danae gleicht. Das deutet in selbstzerstörerischer Weise seinen Wunsch an, Antigone wie Danae im Verlies zu sehen und vielleicht an die Stelle von Zeus treten zu können und mit Antigone ein Kind zu zeugen. Vielleicht fühlt er sich sogar Zeus überlegen und will nun demonstrativ durch den Mord an Antigone symbolisch das große Glück widerrufen, dass Zeus mit Danae erfahren hat. Er will mit Antigone den Mythos, dessen Götter und Göttinnen und die von ihnen gezeugte und dem Mensch geschenkte Zeit töten. Aber er hat durch sein Handeln gegen seinen eigenen Willen den Chor aufmerksam gemacht, die die Parallele zu Niobe und Danae erkennen und Antigone zu verstehen beginnen.

Das öffnete auch Hölderlin die Augen. Er findet in der Tragödie von Sophokles die Antwort, die ihm in der eigenen Tragödie des Empedokles nicht gelungen ist. Er versteht, wie die Zeit und damit die Naturforschung nicht von einem Gründungsheros wie Empedokles erstmals verstanden und das Verständnis dem Menschen überliefert wurde, sondern wie dies Danae und Antigone gelungen ist, wenn nur auf sie gehört wird. Mit Antigone beginnt er das Wesen der Zeit zu verstehen, worauf eine neue Gründung der Naturforschung aufzubauen hat. Das war der Ausgangspunkt von Kant. Hölderlin kritisiert nicht Kant, dass der diese Zusammenhänge nicht erkannt hat, sondern er will verstehen, wie in der Zeit und der Zahl als den Gründen der modernen Naturforschung der heilige Name verborgen ist, um von dort aus zu ermöglichen, dass der von Kant eingeschlagene Weg erfolgreich weiter geführt werden kann.

Hölderlin sucht nach der mythischen Erklärung für die Zeit, die Kant a priori voraussetzte. Kant übernahm die Vorstellung von der Zeit und vom Zählen, wie sie seit Empedokles überliefert waren. Er trennte sich nicht deutlich von den darin enthaltenen Missverständnissen der naturphilosophischen Dogmatik. Aber Hölderlin spürt, wie Kant dort etwas traf, was Empedokles den Menschen nicht hatte vermitteln können, und will das festhalten. Er will die Frage beantworten, wie Kant die Gründung der Naturforschung vollziehen wollte.

Der Zeitbegriff bei Kant hat hinter seiner mechanischen Fassade noch die Gewalt und Gefahr zu bersten. Ständig droht die Architektonik seines Systems auseinanderzubrechen. Kant nimmt den Begriff der Zeit auf, aber er ist sich nicht der inneren Gefahren der "reißenden" wie auch entgegengesetzt der "matten" Zeit bewusst. Wenn er von der Zeit "a priori" spricht, klingt das so, als wäre diese Zeit voraussetzungslos. Damit aber das Werk der Naturgründung gelingen kann, das auf dieser Zeit aufgebaut ist, müssen die inneren Gefahren der Zeit verstanden werden. Und die hat erst der Chor verstanden, als er das Schicksal der Antigone in die richtigen Worte zu bringen vermochte. Gerade weil Hölderlin im Grundsatz der Gründung der Naturforschung von Kant folgen will, will er auf diese Weise deren Grundlage besser verstehen.

Der Zusammenhang des Lebens und der Worte

Offenbar können die Götter dem Menschen nicht anders erscheinen als in einer Tragödie wie der von Antigone. Sollte jemand in dieser Tragödie nach einer ethischen Belehrung suchen, wäre sicher Hämon am besten dafür geeignet. Er hat sich auf die anmaßende Art seines Vaters nicht eingelassen, sondern auf den Punkt gebracht, wie Kreon göttliches und menschliches Recht bricht. Er hat nichts falsch gemacht. Und doch folgt er Antigone in den Tod, als er sie befreien will, ihr Grab aufbricht und dort ihren Selbstmord entdeckt. In einer Welt ohne Antigone kann er nicht leben.

Denn sie ist Gott direkt begegnet, und sie hat sogar anders als Empedokles vermocht, den Chor anzuregen, dies in Worte zu fassen. Ihr ist es gelungen, sich der tiefsten Widersprüchlichkeit des Lebens zu stellen. Hölderlin hat an anderer Stelle in seinem Gedicht "Der Rhein" in wenigen Versen zusammengedrängt, was in der Ausdrucksweise der modernen Psychologie als göttliche Beziehungsfalle oder als double bind der Götter bezeichnet werden kann:

"Denn weil
Die Seeligsten nichts fühlen von selbst,
Muß wohl, wenn solches zu sagen
Erlaubt ist, in der Götter Nahmen
Theilnehmend fühlen ein Andrer,
Den brauchen sie; jedoch ihr Gericht
Ist, daß sein eigenes Haus
Zerbreche der und das Liebste
Wie den Feind schelt' und sich Vater und Kind
Begrabe unter den Trümmern,
Wenn einer, wie sie, seyn will."
(Hölderlin, "Der Rhein", HSA 1 S. 345, bzw. FHA 7, S. 190f)

Die Götter erwarten von den Menschen, dass diese in ihrem Leiden die Gefühle äußern, deren sie in ihrer Allmacht nicht fähig sind, und strafen doch zugleich die Menschen, die das tun und sich ihnen in solchen Momenten gleichsetzen. Die moderne Psychologie würde hier im Sinne des aufgeklärten Atheismus einen typischen Fall von Projektion sehen: Die Menschen unterstellen in ihren Mythen den Göttern ein Verhalten, wie sie selbst miteinander umgehen, wenn einer den anderen zugleich dafür liebt und hasst, dass er sich von ihm im Innersten verstanden fühlt. Diese Psychologie würde sicher unterstützen, den von Hämon eingeschlagenen Weg ohne die bittere Konsequenz des Selbstmords gehen zu können. Wer wünschte sich nicht, dass das gelingen möge? Und doch bleibt die Frage, ob die Psychologie das Schicksal von Ödipus und der anderen mythischen Figuren "aufzuklären" vermocht hat, oder ob umgekehrt die Tragödie von Ödipus und Antigone Erfahrungen waren, die von der Psychologie nur sehr oberflächlich gestreift und auf ihre Weise verdrängt werden, wenn sie hier nur einen Komplex familiärer Konflikte sieht.

Antigone konnte ihrem Schicksal nicht entgehen, aber sie findet einen Weg, dies so lange auszuhalten, dass ihr die richtigen Worte zufallen, die dann der Chor aufgreift und den Menschen weitergibt, selbst wenn sie sich hier bereits jenseits der Sprache bewegt:

"Der erhabene Spott, so fern heiliger Wahnsinn höchste menschliche Erscheinung, und hier mehr Seele als Sprache ist, übertrifft alle ihre übrigen Äußerungen; (...) Es ist ein großer Behelf der geheimarbeitenden Seele, daß sie auf dem höchsten Bewußtseyn dem Bewußtseyn ausweicht, und ehe sie wirklich der gegenwärtige Gott ergreift, mit kühnem oft sogar blasphemischem Worte diesem begegnet und so die heilige lebende Möglichkeit des Geistes erhält." (Hölderlin, "Anmerkungen zur Antigonä", HSA 2, S. 371)

Die Sprache und die Macht der Worte reichen in einer solchen Lage wie der von Antigone nicht hin, wenn die Seele sich ganz zusammennimmt und im heiligen Wahnsinn über die Sprache hinausgeht. Die Seele reicht weiter als die Sprache, und dieser Bereich muss daher als das "Geheime" erscheinen. Und wenn die Seele in diesem Bereich spricht, kommen diese Worte wie aus dem Jenseits, ihr selbst unbegreiflich. Die Seele befindet sich im Paradox, dass sie gerade da sich vom Bewusstsein abwendet, wo sie des höchsten Bewusstseins fähig ist. Aber dies ist ihre "höchste menschliche Erscheinung", und nur durch dies Paradox kann Antigone auf die unmögliche Situation antworten, die die Götter den Menschen gestellt haben, und für einen Moment Gott begegnen, wo sie ihm bereits gleichgestellt, aber noch nicht von ihm ergriffen ist.

Solche Deutungen drohen schlicht unverständlich zu werden, von Geisteskrankheit nicht zu unterscheiden, und damit wäre dann doch noch das Schicksal der Antigone besiegelt. Sie wäre eben verrückt geworden. Wie Ödipus ist sie im Moment der "reißenden Zeit" außerhalb ihrer selbst. Wie Empedokles droht sie zu scheitern. Doch der Chor versteht sie. Nur scheinbar ist er abweisend und kalt, als er auf ihre Klage und Verzweiflung mit keinem Wort direkt eingeht. In Wahrheit gelingt es ihm, die Worte Antigones in den größeren Zusammenhang zu stellen und dadurch zu sichern.

"In sofern passet der sonderbare Chor, von dem hier eben die Rede ist, aufs geschikteste zum Ganzen, und seine kalte Unpartheilichkeit ist Wärme, eben weil sie so eigentümlich schicklich ist." (ebd., S. 373)

Auf welchem Weg der Chor Antigone verstanden hat, ist nicht mehr in Worte zu fassen. Die Tragödie kann nur das "Ganze" in Rede und Gegenrede vorführen und darauf vertrauen, dass sie ihrerseits im Ganzen darzustellen vermag, was geschehen ist. Das einzelne Wort, ja sogar der einzelne Vers und das einzelne Lied können dies nicht. Dem Chor gelingt, worum Hölderlin gerungen hat,

"weil auch in tragischunendlicher Gestalt der Gott dem Körper sich nicht absolut unmittelbar mittheilen kann, sondern verständlich  gefasst, oder lebendig zugeeignet werden muß; vorzüglich aber besteht die tragische Darstellung in dem factischen Worte, das, mehr Zusammenhang, als ausgesprochen, schiksaalsweise, vom Anfang bis zu Ende gehet." (ebd., S. 374f)

Hier schließt sich der Gedankengang. Als Antigone in der Begegnung mit Gott über die Sprache hinausgehen muss, droht die Macht der Worte ein für alle Mal verloren zu gehen. Wird sie zum versteinerten Weinen wie Niobe, in einer nicht enden wollenden Depression? Wird sie aus dieser Welt ins Feuer springen, das mythische Reale suchend und jede Realität und alles Seiende aufgebend, wie es Empedokles nachgesagt wurde? Wird sie nur noch zusammenhanglose Laute von sich geben können oder überwältigt vom Trauma unwiderruflich verstummen? Die Macht der Worte kann nur gesichert werden, wenn die Worte nicht isoliert bleiben, sondern von einem Zusammenhang gehalten werden, der im Ganzen über den Bereich der Sprache hinausgeht. Durch das Zählen der Zeit hatte die Zeit mit der Zählbarkeit eine solche Zusammenhangseigenschaft bekommen. Das muss sich jetzt bewähren. Es ist ein und derselbe Gedanke, wenn der Chor die Worte von Antigone in ihrem Zusammenhang versteht, und wenn er Danae und ihr Zählen der Zeit versteht.

Hölderlin sah sich selbst in einer ähnlichen Situation. Innerhalb des Gedichts "Der Rhein" spricht er dies direkt mit den Worten "wenn solches zu sagen / Erlaubt ist" an. Wenn hier davon gesprochen wird, was die Götter von den Menschen erwarten, wie sie ihnen begegnen können und in welche verworrene Lage sie die Menschen bringen, ist mit solchen Aussagen zugleich ständig überschritten, "was erlaubt ist", in dem Sinne, als nie "erlaubt ist", über die Götter oder die Gottheit zu sprechen. Wenn solche Worte wirklich ernst genommen werden, handelt es sich immer um Blasphemie. Diese Worte maßen sich eine Macht an, die dem Menschen nicht gegeben ist, und drohen daher umzuschlagen in das Gegenteil, in die Entmächtigung der Sprache, wie es am Beispiel Kreons vorgeführt ist. Während Kreon jedoch glaubt, souverän diese Sprache zu beherrschen, und nicht einmal spürt, wie er sie verliert, nimmt Antigone diesen Widerspruch bewusst auf sich, den ihr ihre Schwester Ismene vorhält.

"Doch überlaß dies mir und jenem, was aus mir Gefährlich-Schweres rät: ins eigene Wesen aufzunehmen das Unheimliche, das jetzt und hier erscheint." (Heideggers Übersetzung von Antigone Vers 97f in "Hölderlins 'Ister'", S. 123. Hölderlin übersetzt: "Laß aber mich und meinem irren Rath / Das Gewaltige leiden." HSA 2, S. 322).

Vielleicht wird jetzt auch besser verständlich, warum Hölderlin in dem oben zitierten Brief an Seckendorf auf eigentümliche Art mit mathematischen Ausdrücken seine "Rhein"-Hymne beschreiben wollte, weil ihm hierfür keine anderen Worte mehr zu Verfügung standen.

Hier kommt er den Ideen von Leibniz für die neue Mathematik sehr nahe. Leibniz spricht vom Kontinuitätsprinzip und algebraischen Kalkülen. Hölderlins Frage nach dem Zusammenhang geht sogar in einem direkten mathematischen Sinn weiter. Der Zusammenhang ist die Eigenschaft, wodurch das Kontinuierliche vom Diskreten unterschieden wird. Erst im 20. Jahrhundert ist von der Mathematik in der Differentialgeometrie der Begriff Zusammenhang ausdrücklich eingeführt und auf "technische" Weise formal definiert worden. Er hat sachlich genau die Bedeutung, die Hölderlin gemeint hat.

Hölderlin spürt, dass Kant einerseits weiter war als Leibniz, andererseits jedoch auch hinter ihn zurückgefallen war. Kant hatte gegenüber Leibniz den richtigen Weg eingeschlagen, um die Naturforschung zu begründen. Er hatte die grundlegende Bedeutung der Zeit verstanden und mit seiner Tafel der Kategorien begonnen, den Ansatz von Empedokles neu aufzugreifen und erfolgversprechend fortzuführen. Doch bleibt Kant überall in seiner Philosophie bei einem Ausgangspunkt stehen, der sich nicht vom bloßen Zählen der Zeit zu lösen vermag. Das Zählen der Zeit begründet das schrittweise Ausmessen von Raum und Zeit, sowohl durch stückweises Erweitern ins Große wie auch durch fortschreitende Teilung ins Kleine. Alle Antinomien Kants gehen darauf zurück, dass er das Zählen der Zeit auf ein reines Zählen, auf ein Zählen der reinen Vernunft reduziert und restlos von allen mythischen Zusammenhängen reinigen wollte. Insofern folgte er dann doch dem Weg des König Kreon, als er hoffte, eine Reinheit zu finden, die von allen Einbrüchen der Wildheit gesichert ist.

Leibniz hatte mit dem Kontinuitätsprinzip und mathematisch mit der Einführung der Infinitesimalrechnung etwas Neues begonnen, das Kant nur unvollständig aufzunehmen vermochte. Daher war es die Aufgabe der Gründung einer neuen Naturforschung, beides zusammenzubringen: Kants Verständnis der Zeit und Leibniz' Verständnis der Kontinuität. Um die philosophischen Ansatzpunkte von Kant und die mathematische Intuition von Leibniz zu integrieren, war ein Beitrag von seiten der Mathematik erforderlich. Der sollte jedoch mehr liefern als nur ein technisches Verfahren, wie zu differenzieren und zu integrieren ist, mehr als einen widerspruchsfreien formalen Kalkül, wie die Symbole der Differentialrechnung mit den Symbolen des einfachen Zählens zu vereinen sind. Dieser Weg der "strengen" Formalisierung, den dann im Laufe des 19. Jahrhunderts die Mathematik genommen hat, konnte nicht zum Erfolg führen. So viel war Hegel und Hölderlin klar, auch wenn sie nicht wussten, wie die Mathematik aus dieser Sackgasse herauskommen kann.

So konnten sie nicht mehr tun, als mit ihren Mitteln zu versuchen, ihr Anliegen so deutlich und so umfassend wie möglich zu beschreiben. Dies gilt für Hölderlin noch mehr als für Hegel, der sich in der Mathematik weit besser auskannte und von seiner ganzen Art zu denken der Mathematik zweifellos näher stand.

Als sich abzeichnete, dass die Arbeiten zum Empedokles nicht zuende geführt werden konnten, wollte Hölderlin wenigstens so genau wie möglich die erreichten Ergebnisse festhalten. So entstanden 1799 oder 1800 "Poetologische Entwürfe", die früher unter dem Titel "Werden im Vergehen" und jetzt nach der Anfangszeile "Das untergehende Vaterland ..." aus dem Nachlaß veröffentlicht wurden. Dort wird nicht weniger als nach einem Ausgleich "zwischen Seyn und Nicht-seyn" gesucht, "dem Unendlichgegenwärtigen zum Endlichvergangenen" (Hölderlin, Poetologische Entwürfe, HSA 2, S. 73, 74).

Hölderlin fragt, wie es gelingen kann, in der Veränderung das festzuhalten, was den Zusammenhang der Veränderung sicherstellt. Dies ist mehr als die Frage nach der Kontinuität, die Leibniz gestellt hatte. Denn Leibniz war die intuitive Vorstellung einer kontinuierlichen Veränderung ausreichend erschienen. Hölderlin dagegen will verstehen, was das Kontinuierliche an der Kontinuität ist. Und es ist mehr als Kant gefragt hatte. Denn Kant hatte a priori den inneren Zusammenhang von Zeit und Raum vorausgesetzt, der sicherstellt, dass immer weiter gezählt bzw. geteilt werden kann.

Hölderlin wählt für seine Fragestellung Worte, die offenbar wiedergeben, wie ihm Hegel, der 1797 - 1800 in Frankfurt in seiner Nähe gelebt hatte, die Grundzüge der neuen Differential- und Integralrechnung darstellen wollte.

"Diese Auflösung ... stellt - einen reproductiven Act dar, wodurch das Leben alle seine Puncte durchläuft, und um die ganze Summe zu gewinnen, auf keinem verweilt, auf jedem sich auflöst, um in dem nächsten sich herzustellen, ... bis endlich aus der Summe dieser in einem Moment unendlich durchlaufenen Empfindungen des Vergehens und Entstehens, ein ganzes Lebensgefühl ... hervorgeht." (ebd., S. 74)

Sicher mag es ungewöhnlich klingen, mathematisch gesprochen das Lebensgefühl als Integral des Lebens über die Zeit zu definieren. Aber dies Zitat zeigt sehr deutlich, worum es Hölderlin ging. In dem Moment, wo sich sein eigenes Leben zu fragmentieren und auseinanderzufallen drohte, machte er die existenzielle Erfahrung, was die Frage nach dem Zusammenhang ist. Das lässt sich nicht weiter in Worte fassen, sondern nur aus eigener Erfahrung verstehen, oder es bleibt eben unverständlich und wirr, um nicht zu sagen irre. Dies Lebensgefühl einer Umbruchsituation trifft das Lebensgefühl, wie es Ödipus und Antigone erlebt haben, als sie von der reißenden Zeit ergriffen wurden. Nur aus dieser Erfahrung heraus kann die Frage nach dem Zusammenhang des Lebens in ihrer ganzen Bedeutung erfasst werden. Und da zeigt sich, dass das reine Zählen der Zeit nicht reicht. Das Zählen der Zeit sichert zwar eine Stetigkeit und ein Gleichmaß der Zeit, aber es ist nur möglich, wenn die paradox anmutende lebendige Wechselwirkung gelingt: Der Zusammenhang wird hergestellt, wenn er bereit ist sich herstellen zu lassen, so ungewohnt das auch klingen mag. Um an Danae zu erinnern: Ihr Zählen geht nur dann nicht ins Leere, wenn die Zeit schon im embryonalen Entwicklungsprozess zu antworten beginnt und auf ihre Weise "mitmacht", wenn also Danae mit der entstehenden Zeit und mit Zeus als dem Vater der Zeit in verständnisvollem Einklang steht. In den Krisensituationen des Lebens sind jedoch gerade Übereinstimmungen dieser Art in Frage gestellt.

Hier ist die tiefe Intuition Hölderlins, in den Fragen des Lebens und seiner Krisen auf die gleiche Frage gestoßen zu sein, der sich die Mathematik im Verhältnis der endlichen und unendlichen Symbole gegenübersieht, und die die Differenz zwischen Leibniz und Kant darstellt. Dies ist keine Differenz, die zugunsten des einen oder des anderen entschieden werden kann, sondern beide weisen auf etwas Neues, um diese Frage zu lösen.

Das ist aber die gleiche Frage, die Antigone intuitiv gelöst hatte, als sie dank der "geheimarbeitenden Seele" über die Sprache hinauszugehen vermochte. Es geht nicht nur darum, die Worte und die Grammatik in ihrem "Kontext" zu verstehen, also zu verstehen, was "im jeweiligen Zusammenhang" gemeint ist. Sondern jedes Wort hat im Innern eine unerschöpfliche Fülle von Bezügen, und die Worte lassen sich auf diese Weise zurecht mit den Leibniz'schen Monaden vergleichen.

Wie ist es möglich, die Unendlichkeit des Lebens in wenige Worte zu fassen? Die Worte eines Gedichts sollen für etwas Unendliches so treffend sein wie die Elemente der Naturforschung. Hölderlin will auf solche Weise dichten, wie Naturforscher die Naturforschung gründen. Und beide sollen voneinander lernen. Der Naturforscher soll sich von der Poesie leiten lassen (so auch Novalis, so das "Älteste Systemprogramm"), und die Poesie soll von der Mathematik lernen können. Bis zu diesem Punkt konnte Hölderlin seine Fragestellung verdeutlichen.

Aufruf zu Untergang und Krieg

"Rational" war nicht zu erklären, warum gerade in Deutschland die Gründung der Naturforschung gelingen und mit der Gründung der deutschen Nation zusammenfallen sollte. Dies war einfach eine Hoffnung, gewonnen auf den Wanderungen durch Deutschland und dem Eindruck von der Landschaft, den Städten und den im Volk überlieferten Traditionen. War mit den Strömen - dem Rhein, der Donau, dem Neckar oder dem Main, um das Gebiet zu nennen, das er selbst kennen und lieben gelernt hatte - eine Landschaft geschaffen, die sich unterscheidet von der Wildheit der Kentauren und daher anregen kann zu einer neuen Naturgründung, die über das hinausgeht, was Chiron möglich war? Das Homburger Folioheft ist selbst wie ein fließender Strom, in dem über viele Entwürfe wie durch verflochtene Mäander und Nebenarme die Bilder der Landschaften und Städte auftauchen, durch die er gewandert ist, die Erinnerungen an untergegangene Reiche in der Nähe und gestrandete Nationen in der Ferne, die zurückgebliebenen Zeichen "entflohener Götter".

Dies alles fließt ineinander und kann nicht "zusammengefasst" werden. Es können nur bestimmte Punkte genannt werden, an denen es sich wie in Wirbeln verdichtet. Die Sorge, das Schicksal der untergegangenen Reiche in Syrien und Ägypten könne sich wiederholen, ist schließlich in den Nachtgesang "Lebensalter" eingegangen. Der Prophet Joel hatte geweissagt, dass diesen Ländern, die das hebräische Volk unterdrückt hatten, vernichtende Wunderzeichen des Feuers und Rauchdampfes gesandt werden. Hölderlin kannte die Ausgrabungen der zerstörten Städte wie Palmyra, die das archäologisch bestätigten (vgl. die Erläuterungen in HSA 3, S. 269).

Ein anderer Fixpunkt ist das Gedicht "Mnemosyne", mit dem das Heft abschließt. Dort wird an das Schicksal des klassischen Griechenland erinnert, dessen Helden wie Achilleus oder Ajax sich Göttlichkeit anmaßten und in Mord, Selbstmord und Wahnsinn sterben mußten.

Das alles sollte Warnung genug sein. Den "Germanen" wird unmöglich in einem neuen Anlauf gelingen, woran die Heroen Griechenlands und die Tyrannen der frühen Großreiche gescheitert waren. Nur wenn hier ein anderer Weg eingeschlagen wird, besteht Aussicht auf einen neuen Anfang. Germania ist für ihn keine Kriegerin, kein "Mordsweib mit fliegenden Haaren und einem Riesenschwert", wie das im Bismarck-Reich geschaffene Niederwalddenkmal bei Rüdesheim am Rhein (Heidegger, Hölderlins "Germanien" und "Rhein", S. 17). Er dichtet sie als Priesterin, lange "im Wald verstekt und blühenden Mohn voll süßen Schlummers". Das Gedicht "Germanien" steht nicht ohne Grund in der Mitte des Folioheftes.

Von ihr wünscht er den Mut: "Nicht länger darf Geheimniß mehr / Das Ungesprochene bleiben". Von ihr erwartet er: "Dreifach umschreibe du es, / Doch ungesprochen auch, wie es da ist, / Unschuldige, muß es bleiben." Nur in diesem scheinbaren Widerspruch kann die Lösung liegen. Die "dreifache Umschreibung", das wäre die gelingende Gründung der Naturforschung, die das Ungesprochene als Ungesprochenes erhält, aber den Weg zum Verständnis des Geheimnis findet. In dieser wiederholenden Umschreibung würde das "Zählen der Zeit" aufgenommen und wäre ein umgreifender, schützender Zusammenhang gefunden, in dessen Mitte das Ungesprochene stehen bleiben und als das Tragende des Zusammenhangs verstanden werden kann.

Wenn das gelingt, schliesst diese Vision mit der Hoffnung, dass Germanien "wehrlos Rath giebt rings / den Königen und den Völkern" (Hölderlin, "Germanien", HSA 1, S. 404 - 407).

Heidegger hat 1934-35 eine Vorlesung über dies Gedicht gehalten, als er aufgegeben hatte, eine aktive Rolle in der nationalsozialistischen Politik zu übernehmen, und er die Ziele seines Freiburger Rektorats misslungen sah. Es verrät die innere Erregung, wenn er aus seinem gewohnten Tonfall hinausfallend schreibt: "Hölderlin ist also offenbar 'Pazifist', tritt ein für die Wehrlosigkeit Germaniens und gar noch für einseitige Abrüstung. Das grenzt hart an Landesverrat." (Heidegger, Hölderlins "Germanien" und "Rhein", S. 17) Heidegger spürt, wie mit Hölderlin sein eigenes politisches Engagement und alle philosophischen Ideen, die ihn dorthin geleitet hatten, in den Grundfesten in Frage gestellt sind. Daher sucht er bei ihm Unterstützung und neue Antworten und will zugleich doch nicht wahrhaben, was er dort liest. So sucht er nach "kriegerischen Stellen" in Hölderlins Werken, was jedoch gründlich misslingt. Er findet die Verse: "und Feuer und Rauchdampf blüht / Auf dürrem Rasen, / Doch ungemischet darunter / Aus guter Brust, das Labsaal / Der Schlacht, die Stimme quillet des Fürsten" (zitiert ebd. S. 19, vgl. HSA 1, S. 398). Dies sind einige der Verse im Homburger Folioheft, mit denen Hölderlin an den Untergang Syriens durch göttliche Strafe erinnert. Rückblickend auf die deutsche "Endlösung der Judenfrage", also den deutschen Versuch, die von den Ägyptern, Syrern und Römern begonnene Auslöschung des jüdischen Volkes zu Ende zu führen, und die weitgehende Zerstörung Deutschlands im Laufe des 2. Weltkriegs kann das fast wie eine ungewollte Prophezeiung klingen. "Labsaal / Der Schlacht" empfindet im Gedicht von Hölderlin nicht das mordende "Herrenvolk", sondern der rächende Gott.

Hölderlins Hoffnung war geradezu ins Gegenteil umgeschlagen. Der Materialismus, Positivismus und oberflächliche Atheismus des 19. Jahrhunderts sind wie ein Spott auf seine Ideen. Schlimmer noch: Während seine Hoffnungen noch nicht einmal verstanden wurden, blieb doch der Anspruch, von Deutschland könne etwas Besonderes ausgehen, und dieser Anspruch verselbständigte sich und nahm geradezu groteske Züge an. Zugleich wuchsen Unzufriedenheit und eine innere Spannung über die im 19. Jahrhundert eintretende Entwicklung. Das wurde zuerst wahrgenommen von Nietzsche, der wie kein anderer die Hohlheit und Verlogenheit der im Bismarck-Reich entstehenden deutsch-nationalen Symbole anklagte. Es folgte die von Musil beschriebene Generation, die nicht zurecht kam mit der Selbstgerechtigkeit ihrer Eltern, den Gewinnern der "Gründer-Jahre", den von Nietzsche verspotteten Philistern. Diese Generation wollte aufnehmen, was sie bei den "Deutschland-Kritikern" Schopenhauer, Wagner und Nietzsche als deren geheime Deutschland-Begeisterung verstand, und zugleich den Militarismus der verachteten Preußen bewahren. Das alles braute sich nach der traumatischen Erfahrung erst der Kriegsbegeisterung, dann der schrecklichen Realität der Massenschlachten und schließlich der Verzweiflung und Aussichtslosigkeit in den Jahren nach dem 1. Weltkriegs zusammen und schlug um in die "nationalkonservative Revolution", die mit Hölderlin und Nietzsche im Mund aus den Deutschen ein Kriegervolk der Super-Menschen schaffen wollte, das alles mit sich in den Untergang reißt.

Hier ist von keinen Mitläufern die Rede. Walter F. Otto (1874 - 1958) hatte 1929 ein sehr erfolgreiches Buch über "Die Götter Griechenlands" veröffentlicht und war unter Philologen durchaus angesehen, auch bei Kerényi. Während der Kriegsjahre lehrte er an der Universität Königsberg, die als intellektueller Vorposten gegen den Osten ausgebaut werden sollte. In der Abhandlung über den "Griechischen Göttermythos bei Goethe und Hölderlin" ergreift er 1939 klar Partei für Hölderlin bzw. legt Hölderlin seine eigene Parteinahme in den Mund:

Hölderlins "Ziel ist der Untergang seiner (des Menschen, t.) Sonderexistenz. Darin aber liegt nichts weniger als eine Aufforderung, nach indischer Art, zur Lösung aller Lebensbande, um in völliger bewusst- und Willenlosigkeit selig zu verlöschen. Der Untergang, auf den unser Dasein zielt, hat seine Größe nicht daher, dass er uns von allem Leiden befreit, sondern daher allein, dass er das Erhabene ist, an dem wir zerbrechen. Er ist ein Opfer. Aber dies Opfer bedeutet keinen Verzicht (oder gar eine Aussicht auf Vergeltung), sondern die festlichste Huldigung des Vergänglichen vor dem, was ewig ist." (Otto, S. 44)

Wo Hölderlin gehofft hatte, aus den "unendlich durchlaufenen Empfindungen des Vergehens und Entstehens" könne schließlich "eine ganze Summe" gewonnen werden, "ein ganzes Lebensgefühl" hervorgehen, schwärmt Otto vom Opfer und Zerbrechen. Aber sie meinen ja auch gar nicht dasselbe. Wo Hölderlin von sich selbst spricht und von den Erfahrungen eines jeden Menschen, spricht Otto von "uns". Da ist nicht mehr die Rede von der Angst des Empedokles, der erkennen muss, wie von ihm erwartet wird, dass sich "in Einem", nämlich in ihm, stellvertretend das Schicksal der Zeit erfüllt. Hier geht es um den Untergang, "auf den unser Dasein zielt", der "uns" befreien soll. Die Perspektive wurde genau gedreht. Hölderlin habe die Religion der Griechen wieder erfasst und für die Gegenwart gewissermaßen neu gezündet. Und die sieht dann so aus: "Die neue Religion Griechenlands hat ihren Ursprung in den Erleuchtungen nicht des priesterlichen, sondern des adligen und heroischen Menschen." (ebd., S. 39) Da ist er wieder, der Gegner des Empedokles, "zum Helden geboren". Anders als der von Hölderlin charakterisierte Gegner des Empedokles sucht jedoch Otto nach keinem Stellvertreter mehr, sondern erwartet vom Volk, von "uns", dass alle sich in einer heroischen Tat selbst opfern und im kollektiven Untergang dem Ewigen huldigen. Wen sie dabei im kollektiven Selbstmord mit in den Tod ziehen, das ist Otto nicht einmal eine Frage wert.

Wie ernst das gemeint ist, zeigt das ebenfalls 1939 erschienene Buch über Hölderlin von Kurt Hildebrandt (1881 - 1966). Hildebrandt war einer der Prominentesten aus dem George-Kreis, der sich dem Nationalsozialismus angeschlossen hatte. Stefan George, der Meister, hatte für viele überraschend 1933 demonstrativ Deutschland verlassen, obwohl die NSDAP ihm hohe Posten angeboten hatte. Hildebrandt hatte dagegen 1934 Julius Stenzel aus der Professur in Kiel verdrängt, als Kiel zur nationalsozialistischen Musteruniversität aufgebaut werden sollte. Er lässt keinen Zweifel, dass er wie Otto in Hölderlin das große Vorbild für den Faschismus sieht. Seine Formulierungen nehmen noch direkter die nationalsozialistische Propagandasprache auf. Hölderlin habe ein "arisches Christusbild" geschaffen, eine neue Religion, eine deutsche Philosophie und rufe auf zum "Göttertag", zu dem auch der Krieg gehöre.

Hildebrandt zeigt bisweilen ein geradezu unheimliches Verständnis für Hölderlin. Er spürt sehr genau, dass zu misslingen droht, was Hölderlin gehofft hatte. Statt sich dieser Frage zu stellen, reduziert und verkehrt er sie auf einen aussichtslosen Gegensatz: Seit Beginn der Neuzeit steht für ihn "das kalte mathematische Gesetz" gegen "das schöpferische Geschehen" (Hildebrandt, S. 18). Hatte Hölderlin Beistand von der Mathematik gesucht und nicht gefunden, hatte er auf ein von der Mathematik gesichertes Band gehofft, die Gesetze der Erde und des Kalküls zusammenzuführen, nimmt Hildebrandt nur noch das Ausbleiben an Hilfe durch die Mathematik wahr, stellt das schöpferische Geschehen frontal der Mathematik entgegen, und das mathematische Gesetz nimmt für ihn die Stelle des Todes und der Erde ein. Das ernsthaft zu Ende zu denken braucht gar nicht versucht zu werden, zu offensichtlich sind die Unvereinbarkeiten mit anderen "Grundwerten" des Nationalsozialismus wie Todessehnsucht und Blut- und Boden-Romantik. Stattdessen berauscht Hildebrandt sich an der leer laufenden eigenen Sprache und Wortgewalt, die er aus dem George-Kreis mitgebracht hat.

Er sieht das "kalte mathematische Gesetz" durch Spinoza gegründet, von dessen Pantheismus sich die gesamte deutsche Aufklärung seit Herder habe blenden lassen. Leibniz habe zwar davor gewarnt, sei aber nicht gehört worden. Und mit Kant sei dies mathematische Gesetz zur Herrschaft gekommen und habe damit die fatale Entwicklung des 19. Jahrhunderts eingeleitet. "Despotische Vernunft und unterdrückte Natur, das ist die klare Antithese Kants" (ebd., S. 27). Kant steht für alles, was am 19. Jahrhundert verachtet wird, "dem geradlinigen hemmungslosen Ablauf" des "Fortschrittswahn(s) als Religionsersatz" (ebd., S. 85f), aber auch Systemdenken, Hoffnung auf Völkerfrieden, entseelte Kunst und inhaltleeres Sittengesetz.

So wie der Hinweis auf den Juden Spinoza nahelegen soll, dass das mathematische Gesetz letztlich einen jüdischen Ursprung hat, wird unmerklich auf der anderen Seite aus dem "schöpferischen Geschehen" erst das "Unendlichkeitsstreben des deutschen Geistes" und schließlich "das deutsche Unendlichkeitsstreben" (Hildebrandt, S. 219, 222) und damit aus der Tragödie des Empedokles die deutsche Tragödie und schließlich aus dem Tod des Empedokles der deutsche Tod. Wenn das deutsche Volk versteht, worum es geht, braucht es keinen Stellvertreter mehr, der sich selbst vergotten muss gegenüber einem unverständigen Volk. Es braucht keinen Titanen mehr über sich, sondern wird selbst titanisch.

"Als das deutsche Unendlichkeitsstreben in der zweiten Renaissance als mystisches Allgefühl und als titanischer Schöpferstolz die Kammhöhe erreicht, bricht es sich in zwei Gipfeln: Goethes Verzicht auf den Titanismus, wie er sich äußerlich darin ausdrückt, dass er seine Prometheushymne nicht veröffentlicht, und Hölderlins Verzicht auf die Empedoklesvergottung." (ebd., S. 225)

Das klingt nach Selbstbescheidung der Genies und Selbstbewusstsein des Volkes. Der "Verzicht" scheint auf den ersten Blick den "späten Widerruf" vorwegzunehmen, den dann Interpreten wie Schmidt in den späten Werken und Versionen Hölderlins gesehen haben. Doch dieser Gedanke geht weiter in eine schier unfassbare Konsequenz. Denn ganz so "kollektiv" ist der Untergang nicht. Vielmehr vertauschen sich die Rollen von Stellvertreter und Volk. Während Hölderlins Empedokles sich für das Volk opfert, erwartet Hildebrandt umgekehrt, dass sich das Volk für den "Götterliebling" opfert:

"Das 'heilige Maß' wird nun der tiefste Gedanke der Hölderlinschen Sendung. Indem er die Aufgabe in der begrenzten Sphäre erkennt, bleibt die Frage über ihm stehen, wird er selbst, der Götterliebling, zur Mittemonade der Sphäre, zum Heros und Retter des Vaterlandes werden, oder wird er nur als einer von vielen Menschen sich als Opfer dem Vaterlande darbringen? In dieser Vereinigung von höchstem Stolz mit der Demut vor dem höchsten Denkbilde, die das Titanengefühl, selbst der Hyperion zu sein, mit der zartesten Frömmigkeit als 'harmonisch-entgegengesetzt' verbindet, ist am ehesten Hölderlins Gestalt zu umschreiben." (ebd., S. 227f)

Das muss zweimal gelesen werden, aber dann ist es so eindeutig wie nur irgend möglich. Die faschistischen Intellektuellen wie Otto und Hildebrandt wussten ganz genau, was sie wollten und wo sie standen. Das "heilige Maß" war für sie persönlich eine einmalige Gelegenheit. "Empedoklesvergottung" bedeutete für sie, dass Empedokles wie Christus das stellvertretende Opfer auf sich genommen hätte. Hölderlins wachsende Angst über die Entfesselung der Wildheit deuten sie nun um, indem Empedokles die Last abgenommen ist, stellvertretend für sein Volk sein Leben aufzugeben. Statt dessen soll das Volk für seinen Führer sterben, damit der als "Heros und Retter des Vaterlandes" auftreten kann. Und da müssen wie bei Rothacker die "Germanen" herhalten, um dieser Kritik am Christentum die richtige Schwere zu geben:

"Darin sind die Germanen Theoderich, Leibniz, Goethe, Hölderlin sich gleich, dass ein Gott und König am Kreuz ihnen unleidlich ist. Der freie Tod ist ihnen das Fest der Feste. (...) Aber er erkannte auch im Vervollkommnungsstreben, in der faustischen Unersättlichkeit eine zerstörende Kraft, denn die Harmonie ist nur in der Liebe zur All-Ganzheit, zum Vater Aether gegeben, aber das individuelle Streben verfeindet die Menschen. Zum Göttertag gehört auch der Krieg - und zur Vollendung auch wieder die Harmonie, die Versöhnung." (ebd., S. 238)

Die Aufzählung dieser "Germanen" klingt fast lächerlich. Aber wie ernst das gemeint war, zeigte die weitere Entwicklung. Hildebrandt, Otto und viele andere sahen als ihre Aufgabe, im Stil neuer heidnischer Priester den "Göttertag", d.h. den im Jahr 1939 ausbrechenden Krieg zu zelebrieren. Während Millionen von Deutschen in den Krieg zogen, dort mordeten und starben, überlebten Wortführer wie Otto und Hildebrandt nicht nur, sondern vermochten sich auch nach 1945 wieder gut einzurichten. Am Ende stellt sich nur noch die Frage: Wie ist zu erklären, dass auf solche Weise Hölderlin völlig gegen sich selbst gelesen werden konnte und dies sogar in einem Maß geglaubt wurde, das sich bis zum eigenen Tod gegen jede bessere Einsicht abzuschließen vermochte? Wie war es möglich, solches Denken mit einer Weihe zu umgeben, vor der jede Kritik zurückscheute oder ihrerseits dämonisierende Züge annahm, wie etwa bei Lukács, der kurz und bündig von der "Zerstörung der Vernunft" sprach?

Entmächtigung des Wortes als Programm

Ab 1900 bebte die Sprache. Obszöne und Gewalt-Ausdrücke zogen in die Umgangssprache ein, und die wissenschaftlichen Hochsprachen vermochten auf ihrem Gebiet nicht mehr die rechten Worte zu finden. Gewissermaßen von beiden Enden her war das nirgends deutlicher zu spüren als in London und in München. In London kamen im Bloomsbury-Kreis Wissenschaftler, Mathematiker und Schriftsteller zusammen und erlebten, wie Virginia Woolf sich erinnert, um 1910 den "Einbruch des Obszönen", und zugleich den ersten groß angelegten Versuch, in der Naturwissenschaft Worte durch Symbole zu ersetzen (Principia Mathematica von Whitehead und Russell). Ähnliches geschah in München, wenn auch fragmentiert in unterschiedliche Zirkel. Als die Schwabinger Bohème ihre ausschweifenden Feste feierte, Franz von Stuck mit Bildern wie "Sünde" oder "Salome" Erfolg hatte und eine neue Generation von Malern ausbildete, baute Sommerfeld in München sein Zentrum für theoretische Physik auf, das zum Mittelpunkt der neuen, unanschaulichen Quantenphysik werden sollte (Schüler wurden u.a. Heisenberg und Pauli).

Thomas Mann beobachtete das Geschehen mit dem gleichen Interesse wie ein junger Student der Kunstgeschichte, Alfred Baeumler (sein Studiengebiet waren Anselm Feuerbach und Hans von Marées). Mann spürte früh den drohenden Umschlag (Gladius Dei), machte sich nach seinem Aufstieg in das gehobene Bürgertum zunächst jedoch zum Wortführer einer konservativen Revolution.

In den "Betrachtungen eines Unpolitischen" erhebt er die Entmächtigung des Wortes zum Programm alles dessen, was deutsch ist. Für ihn ist Deutschland "das unliterarische Land", das seit der Expansion des römischen Kaiserreichs nach Norden dem seine "Wortlosigkeit und Unartikuliertheit" entgegenstellte. Deutschland soll sich wieder auf das besinnen, "was nicht Geist und Kunst, was unschuldig, gesund, anständig-unproblematisch und rein vom Geiste ist" (Mann, S. 42, 83). In all dem fühlte er sich von niemandem besser verstanden als dem jungen Lukács, der in "Die Seele und die Formen" genau dies in den frühen Novellen von Mann gesehen und begrüßt hatte (Mann, S. 94ff). Was Deutschland zu sagen hat, kann es nur in seiner bürgerlichen Art zu leben zeigen, in seiner Musik, und wenn sich wie im Falle des 1. Weltkrieges die ganze Welt gegen Deutschland verschworen hat, in der heroischen Kraft und verzweifelten Einsamkeit eines "Ritter, Tod und Teufel" (Dürer). Die Worte dagegen überlässt es freiwillig den politischen Gegnern in Rom, Frankreich oder den USA, beziehungsweise den verachteten "Zivilisationsliteraten" in den eigenen Reihen.

Baeumler nahm diese 1918 veröffentlichten Ideen begeistert auf und erhob sie endgültig zum Programm einer radikalen Bewegung, die er dann im Nationalsozialismus verwirklicht sah. Sein Programm speist sich aus den in München gewonnenen und später in Berlin bestätigten Erfahrungen: Die westliche Kultur wird von Genuss und Geld dominiert und findet die ihr gemäße Lebensform im Salon und den ständig wechselnden Moden, in denen die Frauen das Sagen haben. In den Salons sieht er Unterwürfigkeit und Intrigen an der Macht, wo kein offenes und direktes Wort mehr gesprochen werden kann, bis schließlich auch kein klarer Gedanke mehr zu fassen ist. Allein das zählt, was gut ankommt und die Laune hebt. Ist das irgendwo drastischer beschrieben als in Manns früher Novelle "Luischen"? Der "Einbruch des Obszönen" ist für Baeumler die sichtbare Oberfläche einer entarteten bürgerlichen Kultur, in der die Frauen die Regeln und über ihre persönlichen Beziehungen die Karrieren steuern, während die Männer sich in eine betäubende Erotik verstricken lassen oder ausgedrängt bleiben.

Und zugleich gehen der Naturwissenschaft, dem letzten Feld der von Männern dominierten Gesellschaft, die Worte aus. Sie hat nichts mehr zu sagen und pulverisiert sich geradezu in eine beliebig werdende Fülle von Tatsachen ohne jedes tiefere Verständnis für den inneren Zusammenhang. Das war seine zweite Enttäuschung. 1926 hat er gemeinsam mit Manfred Schröter nicht nur die Schriften von Bachofen herausgegeben, sondern auch Hermann Weyls "Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaften", in der Weyl einen eigenen Weg zur Lösung des festgefahrenen Grundlagenstreits der Mathematik zwischen Formalisten und Intuitionisten sucht. Aber diese Ideen hatten keine Chance gegen den Erfolg der neuen Quantenmechanik, die der formalistischen Mathematik folgend allen Bezug auf Anschauung und Intuition aufgab. In den kritischen Jahren vor 1933 fasste er aus seiner Sicht in einer sehr klaren Darstellung "Die geistesgeschichtliche Lage im Spiegel der Mathematik und Physik" zusammen. Ohne es genauer ausführen zu können, sieht er in Descartes, Galilei und Kepler die "Neuschöpfer der Wissenschaft aus dem kühnen, unternehmenden Geiste der Völker des Nordens." (Baeumler, "Hochschule und Staat" (1933) in: "Männerbund und Wissenschaft", S. 144) So vage das Programm "Männerbund und Wissenschaft" blieb, so konkret wurde die Politik unter der NSDAP, in der Baeumler im Amt Rosenberg in führende Positionen aufstieg.

Sprache verkümmert zu einer Geste der Anpassung und Unterwerfung. Nur der kann noch reden, der sich auf den ihn umgebenden Tonfall einzustimmen vermag. Das gilt schließlich auch für die politischen Mitläufer, die ohne innere Überzeugung dem Nationalsozialismus wie jeder anderen Zeitströmung folgten und sich später ebenso schnell an die veränderten Verhältnisse in einer von den USA dominierten Nachkriegsgesellschaft anzupassen vermochten.

Baeumler verachtet das und sucht nach einem Weg, sich von ihnen zu trennen. Da genügt nicht, von ihnen eine Zustimmung in Worten zu verlangen, sondern den Wechsel der Lebensform, das begeisterte Mittragen neuer Symbole wie die Hakenkreuz-Fahne, den Hitler-Gruß oder die Bücherverbrennung, am besten gleich das soldatische Leben in Kameradschaft und kriegerischem Geist.

"Es ist einfach nicht möglich gewesen, über das Wort hinweg zum Verständnis des Nationalsozialismus zu gelangen, denn unsere Zeit ist eine Zeit der Entmächtigung des Wortes. Alle Vorträge und Aussprachen konnten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verständigungsmöglichkeiten durch das Wort immer geringer geworden waren. Der Verfall der sprachlichen Ausdrucksformen, der so oft beklagt wurde, ist nur ein Symptom. Diesen Verfall kann man nicht durch Verschärfung der Bestimmungen für den deutschen Aufsatz aufhalten. Vielmehr muß das Wort neu geboren werden. Aus den Symbolen, in denen wir uns verstehen, wird das dichterische und das philosophische Wort neu hervorgehen, in dem wir uns dann geistig auf eine neue Art, zarter, differenzierter, mannigfaltiger wieder verstehen werden. (...) Dieses Symbol bringt eine Scheidung, es setzt, was Recht und Unrecht, was wahr und unwahr ist. Das Symbol begrenzt, es schließt aus, es ist ein Symbol nur für diejenigen, die es aus dem Grunde verstehen, und die es mit Begeisterung erfüllt. Das ist unser Begriff von Humanität: Humanität ist da, wo Menschen an ein Symbol glauben und sich einsetzen, wo ein Symbol begeistert und fortreißt zu Gestaltungen und Taten." (Baeumler, Antrittsvorlesung in Berlin in: "Männerbund und Wissenschaft" S. 133, 135)

Als dann nach dem "Untergang", dem "Zusammenbruch" des "Dritten Reiches" unglaublich schnell alles so weiter ging, als wäre nichts gewesen, blieb Baeumler im Jahre 1957 in einer privaten Rückschau auf das eigene Leben nichts als "die Trümmer meiner 'Literatur'" zu beklagen und "die Hitze des Lügentreibhauses, in der ich mein Leben verbracht habe" (Baeumler, "Mein Weg als Schriftsteller", S. 253).

Während Ideologen wie Otto und Hildebrandt Hölderlin ständig im Munde führten, musste Hölderlin für Mann und Baeumler etwas Unlösbares sein. Sie konnten ihn nicht angreifen, da sie in zu vielem fortführen wollten, was er begonnen hatte. Und sie konnten sich nicht auf ihn berufen, da zu offensichtlich war, wie entgegengesetzt Hölderlin dort einen Mangel gespürt hatte, wo sie das Wesen des Deutschen sahen. Also schwiegen sie über ihn.

Trotz aller Hölderlin-Renaissancen ist dies Schweigen inzwischen regelrecht institutionalisiert; es genügt, auf die Lehrpläne des Faches Deutsch zu schauen, wo Hölderlin schlicht nicht vorkommt. Die Entmächtigung des Wortes ist endgültig zum Programm erhoben und scheint sich ohne jeden Widerstand ausbreiten zu können, wenn auch nicht mehr in der prononciert "unpolitischen" oder "politischen" Betonung, wie ursprünglich bei Mann oder Baeumler, sondern viel banaler zum Beispiel in der allgegenwärtigen Werbung. Wie von Mann vorausgesehen, droht dies ständig umzuschlagen in eine neue Welle des religiösen Fanatismus nach dem Vorbild eines Savanarola. Die mit der Entmächtigung des Wortes drohenden Gefahren gelten mehr als je zuvor.

2000 - 2004

Literaturhinweise


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