Walter Tydecks

 

Prinzipien einer Meta-Mathematik nach Aristoteles

- Einleitung

Aristoteles hat nirgends eine Philosophie der Mathematik hinterlassen geschweige denn eine zusammenhängende Lehre, wie sie etwa für die Physik, Ethik, Politik oder Poetik überliefert ist. Daraus haben einige geschlossen, er habe der Mathematik weit weniger Bedeutung einräumen wollen als Platon oder sich aufgrund mangelnder mathematischer Kenntnisse bewusst zu Fragen der Mathematik zurückgehalten. Spätestens seit der gründlichen Übersicht von Albert Görland über Aristoteles und die Mathematik (1899) ist jedoch die Vielfalt der mathematischen Ideen von Aristoteles bekannt. So gibt es in der Himmelskunde (De Caelo), den beiden Analytiken mit zahlreichen Beispielen aus der Arithmetik und Geometrie und am Rande in der Seelenkunde (De Anima) große Passagen zur Mathematik. Am weitesten diskutiert sind die Ausführungen in der Physik über den Kontinuums-Begriff. Görland war Schüler des Neukantianers Paul Natorp und wollte zeigen, dass Aristoteles gegenüber Platon einen Rückschritt bedeutet, da er seiner Meinung nach die Mathematik psychologisch ausgehend von Fragen der Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit der Seele verstand. Das widersprach der um 1890 in Deutschland vorherrschenden philosophischen Strömung, als die Philosophie mit der Kritik am Psychologismus durch Husserl und der Begriffsschrift von Frege genau in die andere Richtung ging.

Wie anregend dennoch auch heute die Ideen von Aristoteles für Mathematiker sein können, hat 1936 Max Dehn in zwei Artikeln über Raum, Zeit, Zahl bei Aristoteles vom mathematischen Standpunkt aus gezeigt. Er wurde jedoch unmittelbar danach als Jude aus Deutschland vertrieben und fand auch im amerikanischen Exil keine angemessene Würdigung mehr. Dadurch gerieten seine Arbeiten in Vergessenheit und sind bis heute nur schwer zugänglich.

Nicht viel besser erging es der 1977 von Hans-Joachim Waschkies veröffentlichten Dissertation Von Eudoxos zu Aristoteles, der als einer der wenigen zentral den Beitrag von Max Dehn aufgriff. Waschkies hat gezeigt, wie gut Aristoteles mit den wichtigsten mathematischen Diskussionen seiner Zeit vertraut war und möglicherweise versucht hat, sie mit eigenen Ideen zu beflügeln. Statt diesen Ansatz fortzuführen erschienen in den 1980ern und 1990ern in Oxford zahlreiche philologische Studien, die sehr nahe am Text die von Aristoteles überlieferten Ideen zur Mathematik analysierten (abschließend John Cleary Aristotle & Mathematics, 1995). Seit ungefähr 2000 gibt es eine Gruppe von Philosophen in Sydney, die die Richtung von Aristoteles wiederbeleben wollen. Hier entstand 2001 ein wichtiger Artikel von Anne Newstead über Aristotle and Modern Mathematical Theories of the Continuum, in dem sie die Mathematik von Cantor mit den Ideen von Aristoteles konfrontiert.

Aber die eigentliche Schwierigkeit besteht für mich nicht in einer genaueren textkritischen Analyse der einzelnen Stellen, an denen Aristoteles etwas über »mathematische Gegenstände« schreibt, sondern darin, den systematischen Stellenwert der Mathematik im Verhältnis zu Physik und Metaphysik zu erkennen. Bei Aristoteles gibt es dafür nur in Physik II.2 einen klaren Hinweis, wenn er von der Verselbständigung (chorizein) der mathematischen Figuren (schemata) von den Formen natürlicher Körper spricht (Phys. II.2, 193b31). Wenn an der Form ihre Größe und die Größenverhältnisse betrachtet werden, dann ist an der Form dasjenige gefunden, was unahhängig vom Stoff rein mathematisch analysiert werden kann. Es gibt keine Form ohne Stoff, aber jede Form hat eine Größe, und die Größe hat eine mathematische Figur, die unabhängig vom jeweiligen stofflichen Träger betrachtet werden kann.

Sprachlich werden jedoch Form, Größe und Figur nahezu synonym gebraucht. Oft ist das gleiche gemeint, wenn von der Form, der Größe oder Figur von etwas gesprochen wird. Um die Verwirrung perfekt zu machen, wird Form mal als morphe und mal als eidos verstanden.

Ebenso werden Zahl und Größe nicht klar voneinander getrennt und auch nicht Ort und Größe (oft wird gesagt, dass die Größe von etwas identisch ist mit dem Ort, den es einnimmt).

Schließlich ist der Begriff Verselbständigung (chorizein) bis heute kein klar definierter Fachbegriff der Philosophie geworden. Platon sprach im Symposion 192c von der Trennung der Menschen in Mann und Frau, im Phaidon 67c vom chorizein der Seele vom Körper, in Politeia 522b von der Abtrennung der reinen Wissenschaft gegenüber Musik, Erwerbskunst und Gymnastik, und hat im Philebos 55e Arithmetik, Geometrie und Wägekunst von den anderen Fertigkeiten getrennt (nach Gottfried Martin Platons Ideenlehre, GoogleBooks, S. 165f). Im Neuen Testament wird chorizein sowohl als Scheiden im Sinne der Ehescheidung gebraucht (Mt. 19,6), aber auch als Festsetzen, Bestimmen (»Von den Jüngern aber setzte ein jeglicher etwas fest so, wie es ihm die Mittel erlaubten«, Apg.11,29).

Alle diese Bedeutungen von chorizein treffen nur teilweise das, was Aristoteles meint:

»Hiermit befaßt sich nun auch der Mathematiker, allerdings nicht insoweit dies alles Begrenzung eines natürlichen Körpers ist; und auch die Eigenschaften betrachtet er nicht, insofern sie ihnen als eben derartigen zutreffen; deswegen verselbständigt (chorizein) er sie auch, denn sie sind im Denken von der allgemeinen Veränderung der Dinge abtrennbar, und das macht überhaupt keinen Unterschied, und es ergibt sich nichts Falsches, wenn man sie abtrennt« (Phys. II.2, 193b)

Wenn der Mathematiker die räumliche Gestalt von der Form abtrennt, ist das wie bei der Trennung der Seele vom Körper oder der Wissenschaft gegenüber den Künsten ein Vorgang, der nur im Denken erfolgen kann. Anders als in diesen Beispielen bleibt es aber in gewisser Weise auf einer sinnlich anschaulichen Ebene. Jeder kann in seiner Fantasie fast unmittelbar bildlich nachvollziehen, was geschieht, wenn die geometrische Figur von der Form getrennt wird, an der sie zuvor gesehen worden war.

Dies Verständnis von mathematischer Verselbständigung soll in diesem Kommentar erweitert werden zu einem übergreifenden Ansatz: So wie Aristoteles in der Physik die drei Prinzipien Stoff, Form und Formmangel zugrunde gelegt hat, sollen daraus die drei Prinzipien Zusammenhang, Größe und Zwischen entwickelt werden, mit denen sich die Mathematik umfassend von der Physik verselbständigt und als eigene Lehre konstituiert. Was Aristoteles über die »Begrenzung eines natürlichen Körpers«, d.h. über einen Aspekt der Form sagt, soll übertragen werden auf Stoff und Formmangel.

Und diese Verselbständigung soll nochmals in zwei Schritte aufgeteilt werden. So wie Aristoteles Form, Größe (megethos) und Figur (schema) unterscheidet, sollen entsprechend Stoff, Zusammenhang und Dimension bzw. Formmangel, Zwischen und Austauschbarkeit unterschieden werden.

Das ist sicher unvertraut und mag willkürlich erscheinen. Seine Berechtigung wird sich erweisen, wenn im folgenden Schritt für Schritt in diesem Sinn die Grundlagen der Mathematik entwickelt werden. Um die Prinzipien Größe, Zusammenhang und Zwischen von der Mathematik zu unterscheiden, werden sie als Prinzipien einer Meta-Mathematik verstanden, so wie Aristoteles Metaphysik und Physik unterschied. Das ergibt die Übersicht:

Physik Meta-Mathematik Mathematik
Stoff Zusammenhang (synecheia, Kontinuum) Dimension (diasthema, Ausgedehntheit, Potenz)
Form Größe (megethos) Figur (schema)
Formmangel (steresis) Zwischen (metaxy) Ununterscheidbarkeit (Austauschbarkeit)

Dimension (Ausgedehntheit) und Ununterscheidbarkeit (Austauschbarkeit) sind neben der Figur als gleichberechtigte Prinzipien der Mathematik zu erklären.

Dieser neuartige Ansatz bedeutet: Es wird im übertragenen Sinn nach dem Stoff der Mathematik gefragt und nach dem Wechselspiel (enantiodromia) von Größe und Zwischen (Größenmangel) in der Meta-Mathematik bzw. von Figur und Ununterscheidbarkeit (Gestaltmangel) in der Mathematik, wie es das Wechselspiel von Form und Formmangel in der Physik gibt. Als Stoff der Mathematik wird die Dimension verstanden, die Ausgedehntheit. (Diesem Verständnis kommt Schelling mit seiner Lehre der Potenzen entgegen.) Dimensionen sollen nicht einfach verstanden werden als gleichberechtigte Achsen im Koordinatenkreuz, im dreidimensionalen Raum oder verallgemeinert im unendlich-dimensionalen Hilbertraum, sondern jede Dimension enthält ihren eigenen Beitrag zum Stoff der Mathematik. Bei Aristoteles lassen sich für dies Verständnis besonders in der Himmelskunde (De Caelo) Anregungen finden. Dort gebraucht er systematisch den Begriff Ausgedehntheit (diasthema). Mit sicherem Instinkt hat daher Görland entgegen aller Tradition Stelle und Abstand (thesis, diasthema) und nicht Größe oder Figur (megethos, schema) an den Anfang seiner Untersuchung gestellt. Er bezeichnet den Abstand in seiner platonischen Begrifflichkeit als »Methodenbegriff« (Görland, S. 14).

Diese drei Prinzipien führen zu den von Bourbaki entwickelten »Mutterstrukturen« der Mathematik: Topologie (Lehre des Kontinuum), Verbandstheorie (Größenlehre), Algebra (Regeln der Austauschbarkeit). Es wird zu untersuchen sein, in welcher Weise die von der Mathematik entwickelte Kategorientheorie zu tun hat mit der aristotelischen Kategorienlehre.

Das Wechselspiel von Schema und Ununterscheidbarkeit führt das Wechselspiel von Form und Formmangel weiter. Schemata, das sind klassisch die mathematischen Zahlen und geometrischen Figuren. Das Wechselspiel von Schema und Ununterscheidbarkeit am Beispiel der Zahlen: Alle Zahlen verlieren bei ihrer Verselbständigung von der Form ein bestimmtes Maß an Unterscheidbarkeit. Mathematiker setzen an dieser Stelle drei Pünktchen ›...‹. Mit der Einführung der natürlichen Zahlen beginnt das Zählen eins, zwei, drei, bis es in das ununterscheidbare ›...‹ oder ›n‹ ausläuft. Auf ähnliche Weise erzeugt jede neue Zahlenklasse ihre eigene Ununterscheidbarkeit, am spektakulärsten die komplexen Zahlen mit der Überlappung der Riemannschen Zahlenebenen, aber auch schon die periodischen Brüche (1/3 = 0,333...), die irrationalen Zahlen (√2 = 1,414213562...). Jedes mathematische Axiomensystem fixiert einen bestimmten Zustand, in den Zahl und Ununterscheidbarkeit zueinander gebracht werden können, und enthält zugleich eine innere Sprengkraft, die nach neuen Zahlen mit einer anderen Art von Unterscheidbarkeit drängt. Oder anders gesagt: Kein Axiomensystem kann vermeiden, dass eine bestimmte Art von Ununterscheidbarkeit enthalten ist, aus der heraus Aufgaben entstehen, die innerhalb der jeweils gegebenen Axiomatik unlösbar sind.

Zweifellos ist das Prinzip der Austauschbarkeit weit entfernt von der heutigen Diskussion über die philosophischen Grundlagen der Mathematik. Daher soll in einem weiteren Beitrag gezeigt werden, wie gerade dieses Prinzip zu einem neuen Verständnis der Mathematik führt.

Immerhin gibt es in der neueren französischen Philosophie mit Badiou und Deleuze zwei Philosophen, von denen Ideen in diese Richtung ausgegangen sind. Badiou geht den von P.J. Cohen neu entwickelten Methoden der axiomatischen Mengenlehre nach und arbeitet die Bedeutung des Ununterscheidbaren heraus. Er gibt ihm sogar ein eigenes Symbol, das Venuszeichen. »Die Grundsituation ist ein Teil jeder generischen Erweiterung und das Ununterscheidbare (Venus-Symbol symbol) ist immer eines ihrer Elemente« (Badiou, S. 428). - Deleuze hat von einer »Kleinen Mathematik« (minor mathematics) gegenüber der »Königlichen Mathematik« (royal mathematics) der Axiome gesprochen, die nomadenhaft alle Grenzen der Mathematik überschreitet. Hier soll die minor mathematics aus dem Wechselspiel von Zahl und Ununterscheidbarkeit erklärt werden. In jedem Axiomensystem (royal mathematics) bleibt notwendig etwas offen und unbestimmt, wodurch es anfällig gegen Unterwanderung (minor mathematics) wird.

Es gibt für die drei Prinzipien der Mathematik jeweils so etwas wie einen Nullzustand: Den dimensionslosen Punkt, die leere Größe Eins, die absolute Singularität (das »Schwarze Loch«) bei Herstellung eines völligen Informationsverlustes durch unbegrenzte Entropie. Die Paradoxien der Mengenlehre sind hieraus zu entwickeln. Anders als Badiou sehe ich daher die leere Menge nicht als das Prinzip einer neuen Mathematik, sondern umgekehrt ist ihr Begriff und Stellenwert zu erklären aus den drei genannten Prinzipien der Mathematik.

Daraus ergibt sich die zweite Übersicht:

Mathematik Mutterstruktur Nullzustand
Dimension Topologie Punkt
Figur (schema) Verbandstheorie Eins
Austauschbarkeit Algebra Absolute Indifferenz

2006-2011

© tydecks.info 2014