Walter Tydecks

Eine Logik des Futur II

– Kommentar zu Žižek Weniger als nichts


 
Satie Vexation
Ein Exzess in der Musik: Vexations von Erik Satie. Beachte die Anweisung: diese Noten sind 840mal zu wiederholen.

Beitrag für das Philosophische Colloquium der Akademie 55plus Darmstadt am 10.9. und 29.10. 2018

Einleitung

Slavoj Žižek (* 1949) stammt aus Slowenien, war dort Dissident, studierte 1981-85 in Paris beim Lacan-Schüler Jacques-Alain Miller (* 1944) und hat seit seinen großen Erfolgen in den 1990ern eine Art Sonderstatus jenseits aller akademischen Hierarchien an internationalen Elite-Einrichtungen wie Birkbeck, University of London, The European Graduate School u.a., eine Art Jet-Set unter den Philosophen. Er gilt als einer der einflussreichsten Denker unserer Zeit (und steht auf der Global Toplist 2018 des Gottlieb Duttweiler Institute als der erste dort aufgeführte Philosoph auf einer äußerst respektablen Position 20 weit vor anderen Philosophen wie Peter Singer, Daniel Dennett, Jürgen Habermas, Thomas Nagel, Judith Butler und Saul Kripke). Kritiker werfen ihm seine Starallüren vor. "Žižek schwafelt. Ins Schwafeln gerät, wer eine Sache nicht auf den Punkt zu bringen vermag." (Andreas Dorschel in der SZ vom 6.10.2006) Ähnlich kritisiert Dietmar Dath Weniger als nichts: »Wo Žižek heute seine Sachen veröffentlicht, in den Luxuszonen der neuen Weltordnung, gibt es kaum Zensur. Nicht mal eine Selbstzensur. Er schreibt alles hin, wie's ihm einfällt. Man sieht, dass ihn das unruhig macht und nie befriedigt. Das ehrt ihn. Mehr nicht.« (FAZ vom 3.2.2015) Žižek lässt von anderen zeitgenössischen Hegelianern im Grunde nur Robert B. Pippin (* 1948) gelten, der 2013 eine sehr ausgewogene, umfangreiche Rezension dieses Buches veröffentlicht hat. – Das Buch ist einem Kreis slowenischer Weggenossen gewidmet, augenzwinkernd »Partei-Troika« genannt, Alenka Zupančič (* 1966) und Mladen Dolar (* 1951) (Žižek, Weniger als nichts, im Folgenden als WaN zitiert, 34).

Woher rührt sein Erfolg, und warum lohnt es sich, trotz aller Längen ein Buch von 1.400 Seiten zu lesen? Wir leben in einer Zeit, in der alle traditionellen Werte und »großen Erzählungen« unglaubwürdig geworden sind. Nichts zählt mehr, und alles scheint sich im freien Fall zu befinden, der – frei nach Hegel – noch sein Zentrum sucht, wohin er fällt (siehe HW 9.78). Žižek hat das hautnah miterlebt. Er hat in Jugoslawien noch die stalinistische Ära kennen gelernt, und ebenso den Misserfolg neuer Richtungen wie der 1975 verbotenen Praxis-Gruppe, die in der Zeit um 1968 für viele eine große Hoffnung auf einen neuen Weg jenseits der überlieferten Traditionen war. Wer kennt sie heute noch? Im Westen wurde er Zeuge, wie sich auf der einen Seite bei den Eliten alle bürgerlichen Werte verflüchtigten, familiäre und partnerschaftliche Bindungen entwertet wurden, jede Art von Glauben und Vertrauen verloren ging und für die dadurch ausgelösten persönlichen Krisen nur noch bei Psychologen, Psychiatern und Heilpraktikern nach Hilfe gesucht wird, und auf der anderen Seite mit dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Industriearbeitern und Bauern die Arbeiterbewegung ihren inneren Zusammenhalt und ihre eigene Kultur verlor. Insbesondere in der Politik und den Medien gibt es keine anerkannten Autoritäten mehr. Wer früher trotz aller Kontroversen an der Ernsthaftigkeit einer Wirtschaftspolitik wie der von Ludwig Erhard oder dem Oppositionsgeist eines Herbert Wehner, an der Aufrichtigkeit eines Gustav Heinemann oder dem Mut von Rudolf Augstein geglaubt hatte, ist heute eines Besseren belehrt und enttäuscht nicht mehr bereit, irgendeiner Autorität Vertrauen zu schenken. Darauf eine Antwort zu finden verlangt eine bisher ungewohnte Art zu philosophieren, und dafür steht trotz aller Bedenken Žižek mehr als jeder Andere. Niemand wird alle seine Thesen teilen, aber es ist wie ein großer Steinbruch, in dem manches einfach durchzublättern genügt und es dennoch viel zu entdecken gibt. Im Ganzen sucht Žižek nach einer neuen Art von negativer Theologie. Aus der Frage nach der Transzendenz, die unsere Welt und unsere Lebenserfahrungen überschreitet, wird umgekehrt die Frage nach dem ‘Weniger als nichts’, das alle unsere Lebensentwürfe, politischen Utopien und Gedankengebäude entwertet und als leere Illusionen entlarvt. Was bleibt, ist die Unruhe dieser Bewegung. In einer paradoxen Haltung will Žižek an ihr ihren eigenen Wert nachweisen und ermuntern, sich ihr trotz allem hinzugeben.

Das erinnert an die absurde Deutung des Mythos von Sisyphos durch Camus. Wichtig ist das Werk von Žižek, wenn und wo es ihm gelingt, darüber hinaus zu gehen. Heute wird alles in Frage gestellt. Diese Bewegung ist historisch nicht neu. Sie lässt sich nachweisen bei den frühen Spöttern wie dem Satiriker Lukian aus hellenistischer Zeit, den französischen Moralisten wie Montaigne (1533-1592) oder La Rochefoucauld (1613-1680) und nicht zuletzt Friedrich Nietzsche. Der Feminismus gab ihr eine neue Wende mit nie gekannter Breitenwirkung. Hinter jeder großen Tat und jedem großen Gedanken wird eine geheime und meist nicht uneigennützige Absicht vermutet und oft genug nachgewiesen. Das führt in eine Art vorausschauender Prüfung aller anderen wie auch seiner selbst. So sehr sich Žižek in der Fülle des Materials aus Filmen, Zoten, Alltagsbegebenheiten und politischen Ereignissen zu verlieren droht, zeichnet sich wie ein Grundmuster eine Logik des Futur II ab: Alles wird danach beurteilt, was es wird gewesen sein können. Niemand traut den offiziell verkündeten Absichten und vermutet eine geheime Agenda, die sich im Laufe der Zeit an den tatsächlichen Ergebnissen herausstellen wird. Richtig betrachtet kann das für mich der Logik eine neue Wende geben und steht in ihrer Bedeutung gleichberechtigt neben den Arbeiten etwa von Wittgenstein oder Spencer-Brown. Um das zu verstehen, sind zunächst sein Anliegen, seine Fragestellung und sein Verständnis des Scheins nachzuvollziehen, bevor in dem für mich wichtigsten Teil entlang seiner Deutung der Reflexionslogik von Hegel sein eigener Entwurf einer Logik des Futur II besser verständlich wird und auf einige erste Konsequenzen eingegangen werden kann.

Der Exzess als neue transzendentale Denkbestimmung

‘Weniger als nichts’ kann zweierlei bedeuten: (1) Alles ist nur Schein, vom Erfolg in der Liebe über Ruhm und Ehre, persönlicher Macht und Luxus, politischen und beruflichen Idealen bis hin zur philosophischen Erwartung nach einer harmonischen Welt oder einer Glaubensüberzeugung gleich welcher Art. Um mit Kohelet, dem biblischen Prediger Salomo zu sprechen: Alles ist eitel. Es gibt offenbar etwas, wodurch alles und jede Hoffnung zum Schein degradiert wird und sich als Illusion, als Nichts erweist. Wird diese Bewegung des Entzugs von Etwas zum Nichts für sich betrachtet, ist es weniger als Nichts, das Vakuum, das wie ein Schwarzes Loch alles aussaugt und entleert. (2) In einer Gegenbewegung gibt es einen »Hunger nach Sein«: »Aller Anfang liege im Mangel, die tiefste Potenz, an die alles geheftet, sey das Nichtseyende, und dieses der Hunger nach Seyn« (Schelling Philosophie der Mythologie, 12. Vorlesung, zitiert WaN, 27). Schelling spricht an derselben Stelle von der »Tragweite jenes Gedankens (einer negativen Potenz als Anfang)«. Das ist Weniger als Nichts.

Was kann mit negativer Potenz gemeint sein: Schelling war sehr an der Entstehung der Naturwissenschaft interessiert, deren Umwälzungen er seit den 1790ern aufmerksam verfolgte. In seiner Potenzenlehre bringt er die Entwicklung mathematischer Potenzen vom Punkt über die Linie und Fläche zum Raum zusammen mit den Potenzen der Natur von der mineralischen über die chemische und elektrische über die pflanzliche bis zur animalischen Welt. Er hat eine erste Theorie der Selbstorganisation ausgeführt, wonach jede Potenz aus sich heraus zur nächsthöheren Potenz führt. Heute wird von Emergenz gesprochen. Negative Potenz bedeutet, dass diesen Potenzen ein Urgrund vorausgeht, der aus sich heraus zur Ausgestaltung der Potenzen führt. In heutiger Sprache kann vereinfacht gesagt werden, dass die negative Potenz der Zustand der Welt vor dem Urknall ist. Es gibt buchstäblich noch nichts, das aus sich heraus zu einer Emergenz führen kann. Es gibt keinen Stoff, der sich bewegen kann. Aber es gibt einen Hunger nach Sein, der diesen Zustand beenden will. Mythologisch fand Schelling Vorläufer bei den Kabiren. Das sind chthonische Figuren des griechischen, vor-olympischen Mythos, die noch den Göttern vorausgehen, eigenartige unfertige Feuerwesen voller Tatendrang und zugleich Tücke. Von ihnen handelt Schellings einzige Veröffentlichung, die nach der Freiheitsschrift von 1809 erschienen ist: Über die Gottheiten von Samothrake (1815), und über Schelling gingen sie in den Faust von Goethe ein.

Möglicherweise nach ihrem Vorbild sieht Schelling in einem kühnen Sprung in der negativen Potenz zugleich das Böse angelegt.

»Eine andre Gegenrede, welche aber nicht bloß diese Ansicht, sondern jede Metaphysik trifft, ist diese, daß, wenn auch Gott das Böse nicht gewollt habe, er doch in dem Sünder fortwirke und ihm die Kraft gebe, das Böse zu vollbringen. Dieses ist denn mit der gehörigen Unterscheidung ganz und gar zuzugeben. Der Urgrund zur Existenz wirkt auch im Bösen fort, wie in der Krankheit die Gesundheit noch fortwirkt, und auch das zerrüttetste, verfälschteste Leben bleibt und bewegt sich noch in Gott, sofern er Grund von Existenz ist. Aber es empfindet ihn als verzehrenden Grimm, und wird durch das Anziehen des Grundes selbst in immer höhere Spannung gegen die Einheit, bis zur Selbstvernichtung und endlichen Krisis, gesetzt.« (Schelling, 498)

Das, was vor der Entstehung der Welt gärt und nach Sein hungert, enthält nicht nur den Drang zur Freiwerdung in den positiven Potenzen, sondern zugleich einen »verzehrenden Grimm« über seinen Zustand, der noch nicht in die Positivität übergetreten ist. Dieser Grimm bleibt im Verborgenen erhalten und setzt sich fort, wenn es zur Tat und mit ihr zum Aufstieg in die positiven Potenzen kommt. Ist das nur eine unzeitgemäße, in urtümlichen oder esoterischen Ansichten stecken gebliebene Privatmeinung des Herrn Schelling anno 1809? Er hat mit ihr ein neues Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht, das mit der Französischen Revolution und ihrer Erfolge wie ihrer katastrophischen Folgen in die Welt gekommen ist. Seither haben sich in der westlichen Welt weder der christliche Glaube, der Optimismus der Aufklärung noch irgendwelche vorangegangenen heidnischen Mythen dauerhaft erneuern können. Žižek sieht sich in der Tradition von Schelling. Für ihn ist das, was er heute erlebt, eine Langzeitwirkung der von Schelling vorausgesehenen Entwicklung. Was jedoch für Schelling noch vage und undeutlich war, tritt heute offener hervor. Das zu erkennen und bis in die Grundlagen seiner Logik zu beschreiben ist für Žižek heute die Aufgabe der Philosophie. Er setzt sich damit weit ab von der Hauptströmung der Philosophie, die sich entweder philologisch darauf beschränkt, bedeutende Texte der Philosophie-Geschichte immer von neuem auszulegen, oder mehr oder weniger klein angelegte Aufträge des Staates auszuführen und für ihn zu klären, was beispielsweise unter Bioethik oder den neuen Medien zu verstehen ist.

Die Grundbegriffe der Physik und der Logik werden neu gewichtet. Für Aristoteles entstand Bewegung, wenn an einem Stoff (hyle) ein Formmangel (steresis) auftritt und in einer Bewegung die der Natur des Stoffes angemessene Form (morphe, eidos) wieder hergestellt werden soll. Aristoteles dachte an ganz elementare Beispiele: Wenn etwas krank ist, befindet es sich in einer unnatürlichen Form, aus der es mit Heilung zur natürlichen Form zurückfinden will. Oder wenn ein Stein in der Luft schwebt, wird er zur Erde fallen und dort zu seinem natürlichen Ort zurückkehren. Schelling wollte dagegen die Unterscheidung in Stoff und Form unterlaufen und sucht nach einer Bewegung, die sich unterhalb von Stoff und Form vollzieht. Er spricht nicht nur von Formmangel, sondern auch von Seinsmangel: Jedes Sein ist nur gegeben, weil es vorher an Sein gemangelt hat und aus einem Hunger nach Sein heraus das Sein entstanden ist. Das ist nicht einfach die Abwesenheit von Sein (Nichts), sondern weniger als Nichts. Heidegger sprach von Seinsverlassenheit. Der Begriff ‘Mangel’ (steresis, Privation, Negation, Deprivation) löst sich von dem Stoff, dessen Mangel betrachtet wird, und erhält eine übergeordnete Bedeutung als ein Prinzip, das sowohl dem Stoff wie der Form vorausgeht.

Und so, wie der Mangel an Form überhöht wird in einen Mangel an Sein, gibt es in der Natur und im Menschen eine Art negativen Überschuss, den Schelling als negative Potenz bezeichnet. Negative Potenz: Das ist bei Schelling nicht wie bei Leibniz ein Raum des Möglichen, aus dem heraus etwas Seiendes wirklich wird, sondern umgekehrt innerhalb des Wirklichen eine destruktive Tendenz, ein »unwiderstehlicher Hang zum Bösen« (Schelling, 481), der aus dem »in sich Verhangenen und Dunklen« hervorgeht, – wie Heidegger kongenial interpretiert (Heidegger 1936, 138) –, und zur Vernichtung von Wirklichem führt. In dem sogenannten Natorp-Bericht hatte Heidegger bereits 1922 noch deutlicher von »einer faktischen Grundtendenz des Lebens zum Abfallen von sich selbst und darin zum Verfallen an die Welt und hierin zum Zerfall seiner selbst« gesprochen. »Dieser Hang ist das innerste Verhängnis, an dem das Leben faktisch trägt.« (Heidegger 1922, 19)

Bei Žižek wird aus der negativen Potenz der ‘Exzess’. Mit diesem Ausdruck ist für ihn ein Phänomen gefunden, das die Vielfalt unterschiedlichster Erscheinungen unserer heutigen Welt trifft, von der Psychiatrie über die Politik und Physik bis zu den neuartigen Erscheinungen von Religion und Spiritualität. Es bekommt den Rang einer unausgesprochenen Grundüberzeugung und tritt an die Stelle von Gott oder sonstigen Idealen, an die keiner mehr glaubt. (Dies Thema kann fortgeführt werden mit der 2008 veröffentlichten Arbeit des französischen Philosophen Jean-Pierre Dupuy [* 1941] The Mark of the Sacred, auf den sich Žižek an entscheidenden Stellen dieses Werks bezieht.)

So wie Aristoteles mit einfachen physischen Beispielen argumentiert wie dem Stein, der in der Luft schwebt und zu Boden fällt, greift Žižek elementare Beispiele der modernen Physik auf. Das Photon hat keine eigene Masse und existiert nur in der Bewegung, wenn es dank der Energie der Bewegung zu Masse kommt.

»Ein Photon hat jedoch die Ruhemasse null, seine Masse besteht also nur aus jenem Überschuss; eines gleicht somit einem Nichts, das sich eine Scheinsubstanz verschafft, indem es sich auf wundersame Weise zu einem Exzess seiner selbst rotiert. Funktioniert der virtuelle Kapitalismus unserer Tage nicht ganz ähnlich?« (WaN, 340)

So wie es im Exzess nicht mehr um die Überwindung eines konkreten Mangels geht und wieder Ruhe einkehrt, wenn das gelungen ist, sondern der Exzess in seiner eigenen, nie vollendeten Bewegung das einzige Ziel findet, so befindet sich das Photon im unbegrenzten Bewegungszustand und würde sich selbst vernichten, wenn es aus der Bewegung zum Stillstand kommen würde.

Das Beispiel ist gut gewählt. Wer will von sich behaupten, dass er eine solche Lehre der Physik versteht? Jeder kennt die üblichen Versuche, die Relativitätstheorie von Einstein allgemeinverständlich darzustellen. Aber wer wird erklären können, was Teilchen wie die Photonen sind, die nie zur Ruhe gelangen, sondern in dem Moment in ihrer Existenz vernichtet werden, wenn sie den Ruhe-Zustand erreichen, so wie umgekehrt aus dem Nichts virtuelle Teilchen hervorgehen, die ihrerseits im Zustand der Ruhe über keine Masse verfügen, sondern in dem Moment zur Existenz gebracht werden, wenn sie aus dem schlummernden Ruhe-Zustand in Bewegung versetzt werden? Offensichtlich folgt die Physik mit Theorien dieser Art Denkfiguren, die sich jeder Anschauung entziehen. Sie kann das nur, weil sie von anderen transzendentalen Grundanschauungen ausgeht als es Kant für möglich gehalten hatte. Für sie gilt nicht mehr die Sicherheit der Zeit, in der es Substanz, Kausalität und Wechselwirkung gibt, sondern der Exzess, der sich entweder unbegrenzt in sich enthält, oder aber in das Nichts verlöscht bzw. in einer virtuellen Bewegung aus ihm hervorgeht. Hier liegt eine neue transzendentale Anschauung vor. Für Žižek ist es die Aufgabe der heutigen Philosophie, sie aufzuzeigen und bewusst zu machen. Konnte früher mit Kant gesagt werden, dass der Mensch im Horizont der Zeit denkt, so denkt er jetzt im Horizont des Exzesses. Der Exzess ist keine neue Dimension oder Potenz, die aus der Zeit hervorgeht, er ist auch nicht der nicht-euklidische Raum gegenüber dem euklidischen Raum, wie viele Physiker und ihnen folgend Philosophen glaubten über Kant hinausgehen zu können, sondern ein neuer Rahmen, innerhalb dessen gedacht wird. Er kennt weder Kausalität, noch Substanz oder Wechselwirkung.

Wir sind gewohnt, für alles eine Begründung zu suchen. Gibt es einen Grund für den Exzess und sein Auftreten in unserer Zeit? Ist die Französische Revolution schuld und mit ihr die Abkehr vom überlieferten Glauben, oder der neuzeitliche Nihilismus, von dem Nietzsche sprach? Sind es neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse über das Licht (das Photon), die ein Umdenken hervorgerufen haben? Ist es eine Verallgemeinerung psychologischer Erkenntnisse von Lacan? So zu fragen ist Žižek folgend Zeichen einer überholten Logik. So schwer und ungewohnt es auch ist, heute kann es zunächst einmal nur darum gehen, das Neuartige zu erkennen, mit dem wir heute konfrontiert sind, bevor es vielleicht in weiteren Schritten gelingt, dafür weitergehende Einschätzungen zu finden.

Für Žižek ist der Exzess Phänomen unserer Zeit und wurde auf unterschiedliche Art erstmals von Hegel und Lacan wahrgenommen, auch wenn sie jeweils nur bestimmte Seiten oder Momente davon zu sehen vermochten. Um das scheinbar irrationale Verhalten vieler seiner Patienten zu verstehen – vom Shopping über zwanghafte Promiskuität bis zu unterschiedlichsten Formen wahnhaften Anhäufens, von denen Lacan persönlich nicht weniger betroffen war als seine Patienten –, sieht Lacan ein objet a, »dieses ist, als Objektursache des Begehrens, die Ursache, welche die Symmetrie eines Vakuums stört« (WaN, 1282). Nach Lacan wird niemand jemals das Ziel seiner Wünsche erreichen, sondern in einen Exzess geraten, den ausleben zu können das eigentliche Ziel ist. Das Objekt der Begierde erweist sich für den Außenstehenden und den Psychiater als eine bloße Chimäre, und wie beim Photon geht es nur um die exzessive Bewegung, die um diesen Punkt kreist, der für sich selbst nichts als ein gestörtes Vakuum ist. Das sieht Žižek auch bei Hegel, wenn dieser trotz aller Kritik an Schelling die nie still zu stellende Negativität als das Grundprinzip seiner Philosophie sieht.

»Was dem Nichts vorausgeht, ist weniger als nichts, die vorontologische Mannigfaltigkeit, deren Bezeichnungen von den des Demokrit bis zum objet a Lacans reichen. Der Raum dieser vorontologischen Mannigfaltigkeit liegt nicht zwischen nichts und etwas (mehr als nichts, aber weniger als etwas); im Gegenteil, den ist mehr als etwas, aber weniger als nichts.« (WaN, 679)

Anmerkung: Das den des Demokrit ist ein Wortspiel. Demokrit hat aus ouden und meden – zwei altgriechischen Worten für ‘nichts’ – das ou bzw. me weggelassen. So bleibt den übrig, weniger als nichts (WaN, 86f).

Ein Weniger-als-nichts löst keine übliche Bewegung aus, die an etwas eine von dessen Eigenschaften ändert, sei es die Farbe, den Ort, den Impuls oder sonst etwas, sondern das Sein des Etwas hervorzutreiben oder zu vernichten vermag. Bewegungen dieser Art übersteigen jedes gewohnte Maß und sind daher für Žižek nur als Exzess zu beschreiben. Es ist auch nicht einfach die Geburt oder der Tod, durch die etwas Physisches (Vergängliches) entsteht und vergeht, sondern »der Gegenstand der philosophischen Forschung ist das menschliche Dasein, [...] als das explizite Ergreifen einer Grundbewegtheit des faktischen Lebens selbst« (Heidegger 1922, 10), ohne die alles Seiende seinen Status als Sein – seine Lebendigkeit – verlieren würde, eine Zusammenfassung und Überhöhung des Lust- und Todesprinzips nach Freud durch dessen Nachfolger Lacan in einem einheitlichen Prinzip. Und ebenso ist für Žižek die Negativität bei Hegel zugleich die Destruktion, die alles Gegebene vernichtet wie in der Bewegung der Negation der Negation dem Entstehen alles Neuen die Horizonte und Wege öffnet. Wird beides in einen negativen Prozess zusammengeführt, ist es nicht mehr der übliche dialektische Vorgang, in dem aus These und Antithese und in zweiter Negation die Synthese hervorgeht, sondern der Gegensatz beginnt zu kreiseln und in einen Zustand der immerwährenden Pulsation oder Oszillation zu geraten, in dem Hegel jeden Widerspruch zu Grunde gehen sieht (HW 9.112; 6.78), ein Exzess, der alles und zugleich sich selbst verzehrt. Aktuelle Beispiele liegen auf der Hand: Sei es der Exzess der Finanzwirtschaft, der in der Jagd nach exorbitanten Hypergewinnen die eigene Grundlage in der Realwirtschaft zerstört, oder der Fortschritt einer Wirtschaft, die bei ständig wachsender Produktivität buchstäblich den eigenen Grund und Boden (die Ökologie) unterminiert. Wer die Sprache und Bilder des Geschlechterkampfes liebt: So wie der Mann in den Exzess nach immer neuen und größeren Statussymbolen gerät, gerät die Frau in den Exzess des Shopping und sich Ständig-neu-Verkleiden-müssens, in dem nur noch das Immer-mehr-und-größer und das Verkleiden an sich, aber nicht mehr das jeweils konkrete Produkt zählen.

Aber handelt es sich hier wirklich um mehr als um weitere Beispiele exzessiven Verhaltens, wie es jeder aus dem Alltag kennt? Gibt es einen Exzess, der transzendentalphilosophisch gesprochen an die Stelle der Zeit tritt? Žižek ist so begeistert von der Evidenz der Vielfalt von Exzessen, die heute auftreten und von ihm als Phänomen der gegenwärtigen Gesellschaft nachgewiesen wurden, dass für ihn diese Frage von selbst beantwortet ist. Es gibt in jedem Fall wie von ihm erstmals herausgearbeitet einen Exzess, mit dem in der Physik im Rang einer transzendentalen Denkbestimmung das Photon und andere Teilchen beschrieben werden. Aber ist das mehr als eine Bestimmung, die in den letzten gut 100 Jahren in den Köpfen und dem Denken führender Physiker existiert und möglicherweise wieder abgelöst wird und sich als kurzzeitig erweist? Ist es vielleicht einfach eine kurzlebige Zeit- oder Modeerscheinung, so wie andere Physiker wie Bohr existenzialistischen Ideen folgten, als sie vom existenzialen Einfluss des Beobachters auf den quantenmechanischen Messprozess sprachen und unbemerkt Ideen übernahmen, die in den 1920ern im intellektuellen Milieu dominant waren? Verfällt Žižek seinerseits einer Modeerscheinung, die im Weiteren von Lacan und anderen weiter aufgeladen und angeheizt wurde?

Žižek beschreibt mit dem Exzess als transzendentaler Denkbestimmung das Neuartige des Denkens des 20. Jahrhunderts, worin es sich vom klassischen Denken unterscheidet, in der Physik ganz elementar von der klassischen Physik. Für mich lässt sich Žižek jedoch zu schnell von deren Selbstverständnis leiten und dem heute gegebenen Bild des Exzesses bannen. Seine Bedeutung und Leistung besteht darin, mit dem Exzess erstmals das Neue getroffen und darauf aufmerksam gemacht zu haben, das mit der modernen Physik verbunden ist. Das gibt der Philosophie der modernen Physik eine völlig neue Wende. Aber er gibt sich zu schnell zufrieden mit dem Schein, den dieser Exzess von sich selbst erzeugt. Es ist daher genau zu unterscheiden, was er inhaltlich mit dem Begriff des Exzesses an der Physik gefunden hat, und ob es sich wirklich nur um einen Exzess handelt. Diese Unterscheidung kann sich auf seine eigene Arbeit stützen, wenn er am Exzess dessen innere Logik als Logik des Futur zwei des ›es wird gewesen sein‹ nachweist. Mit dieser Logik trifft er etwas, was im Exzess erscheint, was es herauszuarbeiten gilt, und sich im Ergebnis von der Erscheinung als Exzess trennen lässt. Am Exzess kann die Logik des Futur II erkannt werden. Aber im Weiteren wird eine Logik des Futur II entwickelt, die nicht mehr am Exzess gebunden ist, sondern umgekehrt den Exzess als eine besondere Ausprägung dieser Logik erkennen lässt, die nur für eine bestimmte gesellschaftliche Epoche gilt. Darauf aufbauend ist in einer weiteren Arbeit zu untersuchen, ob sich ausgehend von einer Logik des Futur II ein neues Verständnis der Physik der Photonen entwickeln lässt, welches inhaltlich das trifft, worauf Žižek erstmals gestoßen ist, aber nicht mehr als Exzess verstanden wird.

Mit einem Wort: Wird die Logik dieser Bewegung herausgelöst aus der Deutung eines Exzesses, dann ergibt sich mit ihr eine neue Logik, die die traditionellen Figuren der Logik überschreitet. Was darunter zu verstehen ist, lässt sich erstmals an der von Hegel entwickelten Reflexionslogik zeigen. Žižek ist es mit seiner Deutung der Reflexionslogik gelungen, eine der größten offenen Fragen der Philosophie zu lösen, und die weiteren Folgen sind für mich noch nicht ermessbar und bedürfen weiterer Untersuchung.

»Den Schein ins Wanken bringen«

Mit der Deutschen Philosophie hat der Schein eine Aufwertung erhalten, die seither dem philosophischen Denken eine völlig neue Richtung gegeben hat. »Vor Kant wurde die Philosophie als eine allgemeine Wissenschaft des Seins an sich betrachtet.« (WaN, 22) Für die Antike gab es keinen Schein, sondern nur Täuschung, Missverständnisse und Trugbilder (phántasmata). Platon unterschied im Sophistes sorgfältig zwischen dem falschen Schein, der etwa durch perspektivische Verzerrung entstehen kann (ein weit entfernter Gegenstand sieht kleiner aus als er ist), und den Versuchen der Sophisten, andere mit rhetorischen Tricks zu verwirren und auf falsche Gedanken zu bringen. Wer aber seine Sinne und seinen Verstand beieinander hat, sieht die Dinge so wie sie sind. Platon verließ sich darauf, dass sich die Philosophie letztlich auf das Sein berufen kann, um jede Art von Schein zu durchschauen. Wer sich z.B. im Halbdunkel unsicher ist, ob er einen Baum oder einen Menschen vor sich sieht, muss näher herangehen und die Sache genauer betrachten. Das gilt in übertragener Weise auch für den Zauber des Mythos und der Kunst. Wenn es ihnen gelingt, die Wesen so zu zeigen, wie sie ihrem eigenen Ideal entsprechen, dann ist das kein Trug, sondern zeigt sie im Gegenteil so, wohin sie sich gemäß ihrer Natur bewegen und wie sie sein könnten, frei von allen Einschränkungen und Mängeln, die sich in der Realität nie vermeiden lassen. Das kann Trost geben über die wahre Natur der Sachen, aber auch an einer Realität verzweifeln lassen, in der sich nie etwas in vollem Einklang mit seiner eigenen Natur befinden kann. Schein entsteht aus der Differenz der eigenen Natur und ihrer Realität. Das kann von Betrügern ausgenutzt werden, um einen künstlichen Schein zu erzeugen, der den Betrachter auf eine falsche Fährte führt und ihn die wahre Natur der Sache missverstehen lässt.

Mit Kant (1724-1804) und dessen in 1. Auflage 1781 erschienener Kritik der reinen Vernunft kam die Wende. »Es geht nicht mehr darum, die Erscheinung als 'bloßen Schein' abzutun. [...] Was muss immer schon stattgefunden haben, damit die Dinge uns so erscheinen, wie sie es tun?« (WaN, 23) In dieser Sicht ist der Schein nicht mehr nur das Nichtige, das verschwindet, wenn sich hinter dem Schein die Sache selbst zeigt, sondern die Sache kann sich nur im Schein zeigen, sie muss aufscheinen oder – wie Heidegger sagte – in der Lichtung stehen. Dreierlei muss gegeben sein: (i) Etwas (die Sachen, die Dinge) muss von sich aus erscheinen. Gäbe es da nichts, gäbe es auch keinen Schein. (ii) Auf der anderen Seite müssen die Menschen über eine Wahrnehmungsfähigkeit und Denkvermögen verfügen, um aus den sinnlichen Reizen Vorstellungen und Begriffe bilden zu können. (iii) Und es muss ein Medium und ein Licht geben, über den und dank dessen der Schein übertragen werden kann. Im Vorgang des Scheinens muss alles zusammen kommen: Das Sich-Zeigen der Dinge, die Fähigkeit des Menschen, auf sie aufmerksam zu sein und sie mit seiner Einbildungskraft (Imagination) verstehen zu können, und das Licht, in dem sich etwas zeigen kann. Wenn wir z.B. sagen, dass etwas grün ist, so ist das Grüne nur eine Erscheinung. Es ist nur in unserem Bild und des Dings gegeben. Wie das Ding-an-sich ist, wissen wir nicht. Aber es muss am Ding etwas gegeben sein, das uns als grün erscheint und von dem wir uns eine Vorstellung des Grünen machen können.

Wir können nicht hinter der Erscheinung das Ding-an-sich sehen, aber wir können an der Erscheinung deren interne Regeln erkennen und aus diesen Regeln darauf schließen, wie die Erscheinung gebildet wurde: Wie bringt sich das Ding-an-sich in Erscheinung? Nach welchen Regeln bildet die menschliche Einbildungskraft aus den sinnlichen Reizen Vorstellungen? Welches Medium vermittelt den Schein, und welche Regeln gelten für das Medium? Gäbe es kein Licht, so wäre nichts zu sehen. Hätten die Dinge keine Reflexionsflächen, blieben sie im Licht dunkel. Hätten wir keine Augen, würden wir nichts sehen, und würde unser Verstand über keine geometrischen Fähigkeiten verfügen, könnten wir uns kein inneres Bild von etwas machen. Die Aufklärung hat im Ergebnis den Schein nicht weggezogen (»aufgeklärt«), sondern erkennt am Schein dessen eigene Logik. Umgekehrt kritisiert sie alle religiösen, esoterischen oder naiven Ansichten, es gäbe gewissermaßen am Schein und den Erscheinungen vorbei neben den Sinnen und der Vernunft einen verborgenen, direkten Zugang zum Sein, der einigen Eingeweihten offen steht, die als die Einzigen hinter den Schleier blicken dürfen und dort die Wahrheit sehen (oder im Gleichnis von Platon die Fesseln der Höhlenbewohner abwerfen und ans Licht treten können).

Kant hat sich kaum träumen lassen, welchen Stein er damit ins Rollen brachte. Seit Nietzsche ist die Philosophie anders. Žižek folgt dem Beitrag Truth according to Nietzsche von Alenka Zupančič bei einer Tagung 2002 in Essen: Nietzsche hält mit Kant gegenüber der früheren Philosophie an der Bedeutung des Scheins fest, aber bei ihm beginnen die beiden Seiten des Scheins auseinander zu fallen in zwei Arten von Wahrheit. In Jenseits von Gut und Böse spricht Nietzsche fast in einem Atemzug von der »Wahrheit als das unerträgliche Eigentliche und Echte, das so gefährlich, ja tödlich sei wie der direkte Blick in die Sonne« und schreibt zugleich, dass »die Erscheinung wertvoller sei als die stupide Wirklichkeit und es letztlich keine endgültige Realität gebe, sondern lediglich ein Wechselspiel multipler Erscheinungen« (WaN, 71). Niemand kann den direkten Blick in die Wahrheit aushalten. Die Vorstellungskraft ist nicht mehr wie bei Kant darauf fokussiert, in der Erscheinung die Dinge möglichst originalgetreu so wiederzugeben, wie sie sind, sondern die Vorstellungskraft erweitert  die eine gültige  Erscheinung in ein Wechselspiel vieler möglicher Erscheinungen. Das Ding wird nicht mehr in der dogmatischen Härte gesehen, wie es ist und nicht anders sein kann, sondern in der Vielfalt seiner Möglichkeiten wie auch unserer Möglichkeiten, mit der Tatsache des Dings fertig zu werden. Das Spiel der Erscheinungen öffnet dem Ding den Raum, sich verändern und in Richtung seiner wahren Natur bewegen zu können, wie auch uns den Raum der Handlungen, mit der häufig genug tragischen (wenn nicht gar traumatischen) Macht einer Tatsache fertig werden und darauf reagieren zu können. Das kann mit Žižek und Badiou als die »Passion der Erscheinung« gegenüber der »Passion des Realen« (WaN, 71) bezeichnet werden. Wir erfreuen uns an den Erscheinungen, auch wenn wir wissen, dass es nur Schein ist. Während für Kant die Unterscheidung in Ding-an-sich und Erscheinung nur die Einsicht war, dass wir die Dinge nicht einfach so sehen, wie sie sind, sondern so, wie wir uns von ihnen eine Vorstellung machen können, ist dies für Nietzsche zugleich ein Schutzmechanismus, wie wir uns vor der übermächtigen Gewalt der Dinge und Tatsachen bewahren und ihre Gegenwart aushalten können. Kant bewegte sich noch im Vertrauen auf eine göttliche Ordnung, die dem Menschen Sicherheit gibt und Fortschritt möglich macht. Für Nietzsche befindet sich der Mensch in einer Welt ohne Rettungsanker, und er kann das nur aushalten, wenn er die tragische Wahrheit hinter einem Spiel des Scheins verbirgt und relativiert.

Nach Jacques Lacan (1901-1981) ist dies Verständnis des Scheins einer spezifisch weiblichen Sicht der Dinge zu verdanken. Sie hatten schon immer einen spöttischen Blick auf alle symbolischen Formen der Uniformierung oder pedantischen Ordnung und genossen es, sich anders zu geben als sie sind und sich gerade in der Vielfalt ihrer Verwandlungs- und Erscheinungsfähigkeit so zu präsentieren, wie sie wirklich sind (siehe hierzu ausführlich Darian Leader). Žižek spricht von der »Ontologie des Geschlechterverhältnisses« und schreibt: »Bei der Frau dagegen gibt es keine feste, bedingungslose Verpflichtung, alles ist letztlich eine Maske und genau deshalb ist auch nichts 'hinter der Maske'.« (WaN, 1004, 1017f) Auch wer dieser Rollenzuweisung auf die Frau und der von Lacan vertretenen Sexuierung nicht folgen möchte, kann den Gedanken der Unvollständigkeit aller symbolischen Ordnungen aufnehmen. Es ist für Žižek nicht nur eine Frage der Mode und der alltäglichen Dinge im Verkehr der Menschen miteinander, sondern auch alle Diskurse erweisen sich als Schein, an denen »wir ihre Konsistenz, ihre unmöglichen Punkte aufdecken. Das nennt Lacan in seiner späteren Lehre 'Den Schein ins Wanken bringen'« (WaN, 71 ohne Quellenangabe bei Lacan).

»Den Schein ins Wanken bringen« ist eine missverständliche Übersetzung. Es wird nicht der Schein ins Wanken gebracht und darüber seinerseits in Frage gestellt und aufgelöst, sondern am Schein tritt dessen Wanken hervor. Es heißt im englischen Original bei Žižek: »Vacillating the Semblances« (französisch »vaciller les semblants«) (LtN, 23). Das englische Wort vacillation bedeutet Schwanken, Unschlüssigkeit, Schwingung. So wird von der Unschlüssigkeit (vacillation) Obamas gesprochen, wenn er keine konsequente und konsistente Politik verfolgt hat (z.B. New York Times vom 9. August 2013), und in anderen Zusammenhängen wiederum von den Schwingungen (vacillations) einer Wasseroberfläche. Žižek erwähnt die »quantum vacillations of the void« (in deutscher Übersetzung: »Quantenschwankungen der Leere«, WaN, 58; LtN, 37). Was er mit »vacillation« meint, wird an anderer Stelle deutlicher:

»In einem Liebesbrief können das Scheitern des Schreibenden bei dem Versuch, seine Liebeserklärung klar und effektvoll zu formulieren, sein Schwanken (vacillation), der fragmentarische Stil des Briefes und so weiter selber der (möglicherweise notwendige und einzig verlässliche) Beweis dafür sein, dass seine Liebe echt ist.« (WaN, 358; LtN, 259)

Das scheint mir die Bedeutung von Schwankung zu sein, um die es Žižek geht. Der Liebesbrief scheint misslungen, aber an der Art seines Misslingens erkennt die Adressatin die echte Liebe. Der Mensch erkennt sich und andere nicht, wenn alles perfekt läuft und er nur protokollieren muss, was geschieht, wenn also die Sache und ihre Erscheinung deckungsgleich werden, sondern wenn etwas schwankt, die glatte Perfektion verfehlt wird und im Scheitern der misslingende Schein eines zu einfach gedachten und im Grunde falschen Ideals enttäuscht wird und den Blick freigibt auf eine tiefere Erkenntnis. Der Liebesbrief wird nicht wörtlich gelesen, so wie er da steht, und auch nicht so, wie er auf den ersten Blick zu sein scheint, sondern im Spiel aller Erscheinungen, das er bei der Adressatin auslöst und im Weiteren zwischen dem Schreiber und der Leserin eröffnet.

Selbst hier droht wieder ein Exzess. Wer einmal gelernt hat, dass ein ungeschickt geschriebener Liebesbrief mehr bewirken kann als der Versuch, einen perfekten Liebesbrief nachzuahmen, kann nun seinerseits versuchen, auf geschickte Weise das ungeschickte Schreiben nachzuahmen. Das führt wiederum in einen Exzess von Täuschungen und Selbsttäuschungen, an dessen Ende nur noch die Virtuosität zählt, sich in einem Labyrinth dieser Art am besten bewegen und es sogar auf seine Art genießen zu können. Niemandem wird es gelingen, irgendwann die ultimative Antwort für den besten Liebesbrief (oder eine andere Tat oder einen anderen Gedanken) zu finden, sondern es geht nur darum, das Schwanken des Scheins wahrzunehmen und sich in und mit ihm bewegen zu können. Um in diesem Beispiel zu bleiben: Diejenigen werden sich verlieben und ihre Liebe zeigen können, denen es gelingt, gegenseitig am jeweils andren und an sich selbst eine vergleichbare Reaktion auf das Schwanken des Scheins und eine übereinstimmende Freude daran zu erkennen.

‘Schein’ ist hier nicht die Übersetzung von appearances, sondern von semblances (französisch semblant).

»Wenn Lacan sagt, jeder Diskurs erzeugt einen Schein (semblance) der jouissance, so ist dies folglich als genitivus obiectivus als auch als genitivus subiectivus zu lesen: Einerseits genieße ich nur scheinbar, das Genießen ist nicht ganz echt, andererseits genieße ich aber auch (dass es um nicht mehr geht als) den Schein.« (WaN, 66; LtN, 44)

Ich genieße die Vielfalt und das Wechselspiel der Erscheinungen, und dass keine zu ernst zu nehmen ist. Jede ist im positiven Sinn nur ein Spiel, eine Verkleidung. So konnte es trotz des von Hegel vorhergesagten Endes der Kunst genau umgekehrt zu einem historisch einmaligen Aufblühen der Kunst kommen. Jeder weiß zwar, dass sich die künstlerische Aussage gehaltvoller mit einer gelungenen philosophischen Deutung sagen lässt, aber keine Philosophie kann die lebendige Vielfalt der Kunst in allen ihren Gestaltungen, Possen und Posen ersetzen. Hegel hatte zwar – wie Pippin in seiner Rezension betont – recht, das romantische Ideal in Frage zu stellen, wenn einmal dessen geschickte Inszenierung durchschaut ist (Pippin, 435), aber er ging in seiner Annahme zu weit, das romantische Ideal der Kunst könne nur durch philosophische Arbeit und nicht durch eine neue Form des freien künstlerischen Spiels ersetzt und müsse daher ganz fallen gelassen werden. Selbst wer die Inszenierungen der Romantik durchschaut hat, kann daran Freude gewinnen, wie es ihr immer wieder neu und anders gelingt, sich in überraschenden Facetten neu zu inszenieren. Hegel hat seine eigenen Ideale der jungen Jahre mit Hölderlin und Schelling und ihrer Begeisterung für die Ästhetischen Briefe von Schiller zu radikal aufgegeben. Dafür scheint mir wiederum Žižek anders als Pippin ein treffendes Gespür zu haben.

Doch fällt Žižek hinter diese Einsicht wieder zurück. Hierzu wird er »angestiftet« von Jacques-Alain Miller. Er hält es für »die zentrale Formel des Scheins«, wenn mit Miller gesagt werden kann: »Der Schein gleicht einem Schleier, der nichts verschleiert – seine Funktion besteht darin, die Illusion zu erzeugen, dass etwas hinter dem Schleier verborgen sei.« (WaN, 70) Das ist die klassische feministische Kritik: Der Mann bläht sich hinter seinen Uniformen, akademischen Diskursen oder sonstigen Graden der Anerkennung auf, weil er verbergen muss, dass dahinter in Wahrheit nichts steckt. Der Versuch des Mannes, sich auf gegebene Ordnungen stützen und mit ihrer Sicherheit eigene Ideen entwickeln zu können, wird zum Exzess, an dessen Ende keine einzige neue Idee (kein Werk oder Produkt) steht, sondern der bloße Ablauf, immer von Neuem eine Ordnung zu suchen, in der er sich zugehörig fühlen kann und doch ständig scheitert und anschließend die nächste Uniform sucht. Der zum Exzess entartete Schein ist ein Ablenkungsmanöver von der eigenen Schwäche. In welcher Uniform auch immer ein Mann sich versteckt, eine Frau wird an seiner unbeholfenen Art, sich in der Uniform zu bewegen, erkennen, was in Wirklichkeit mit ihm los ist. Was von einzelnen Menschen gesagt ist, kann auch für große Organisationen gelten. Kirchen oder ganze Staaten bauen eine Scheinwelt auf, damit niemand merkt, dass in ihrem Kern nichts verborgen ist.

Mit dieser nur auf den ersten Blick kritischen Haltung wird die von Kant erreichte Wende wieder zurückgenommen. Der Schein verliert nicht nur seinen Zauber, wie ihn die Antike zu gestalten wusste und wovon in ihren gelungenen Momenten die Mode und die Kunst bis heute leben, sondern auch die ihm – wenn das so gesagt werden kann – von Kant verliehene Würde. Wenn der Schein bloß die Funktion hat, eine Illusion zu erzeugen, ist es wertlos, mit Kant nach den Regeln zu fragen, wie die Erscheinung erscheint. Dann könnte es dabei bleiben, denjenigen, die sich so verhalten, ihre trügerische Absicht vorzuwerfen, und wenn sie das einsehen und ihr Verhalten ändern, ist die Frage von Schein und Erscheinung geklärt.

Wird den Frauen gerecht, wer in dieser Weise ihre Intuition und Unvoreingenommenheit hervorhebt? Frauen wird zugeschrieben, sie sehen an jedem Text den in ihm verborgenen Überschuss, der über den bloßen verstandesmäßig erfassbaren Inhalt hinausgeht. Das kann sowohl zu einer Abkehr von langweiligen Texten führen, selbst wenn diese interessante Themen behandeln, wie auch zur Freude an lebendigen Texten, auch wenn diese inhaltlich in die Irre gehen mögen. – Aber ist das wahr? Wie wenig es Lacan um einen besonderen Zugang der Frauen zum Diskurs geht, zeigt sich daran, dass es für ihn genauer betrachtet nicht die Frauen sind, sondern der Hysterikerinnen-Diskurs, der solche Einsicht möglich macht (siehe hierzu Lacan Encore). Žižek sieht in Die Nacht der Welt Hegel und wohl auch sich selbst in der Rolle einer Hysterikerin. Wie ist dieser Geschlechts-Übertritt möglich? Es geht im Grunde nicht um Sexuierung, sondern um Psychiatrisierung, die die Menschen in eine gegenseitige Blockade führt. Der Mann steigert sich in eine Psychose bis zur Depersonalisation und dem »Gefühl des Verlustes der Realität«, wofür er bei der Frau die Lösung sucht. Diese steigert sich wiederum in die Hysterie und ist enttäuscht und unzufrieden mit allem, was sie erlebt, »in dem man etwas erwartet, aber nichts findet« (WaN, 99). Doch statt hier wiederum einen Schein zu sehen, der ins Wanken kommen und sich in einem freien Spiel der Erscheinungen auflösen kann, teilt er die Menschen in die psychisch Kranken und diejenigen, bei denen sie Hilfe suchen, die Priester einer neuen Zeit. Das ist der Schein, den Lacan um sich breitet. Je näher Žižek dem Punkt kommt, an dem der von Lacan erzeugte Schein seinerseits vergleichbar dem romantischen Ideal als Inszenierung durchschaut zu werden droht, um so stärker fühlt er sich ihm verpflichtet und hält geradezu dogmatisch an dessen Lehren fest. Das scheint mir der Grund für seine eigene innere Unruhe zu sein, das uferlose Kreisen und Herantragen immer neuer Beispiele, um Lacan dennoch rechtfertigen zu können.

Das In-sich-Scheinen der Reflexion nach Hegel im Futur II

Žižek gibt jedoch keineswegs den bei Kant gefundenen Impuls völlig auf, sondern kann ihn kreativ fortführen. Das gelingt ihm bei einer der schwierigsten Fragen der Philosophie: dem Verständnis der Reflexionslogik von Hegel. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) hatte im Verlaufe weniger Jahren zwei existenzielle Krisen durchgemacht. In den Jahren 1804-06 war ihm eine Abkehr von Schelling und dessen Potenzenlehre und ihrer dem mystischen Denken und der Gnosis verpflichteten Grundhaltung gelungen. Er hatte sich Aristoteles zugewandt und in dessen Tradition die Phänomenologie des Geistes geschrieben, die unter dramatischen Umständen 1807 veröffentlicht wurde. Zu dieser Zeit glaubte er noch an eine von Napoleon europaweit einzuführende, aufgeklärte bürgerliche Ordnung, eine Epoche des Friedens, der Harmonie und der produktiven Entwicklung. Die Realität der napoleonischen Besatzungen und die Feldzüge Napoleons 1806-13 in Deutschland und Russland belehrten ihn eines anderen. Wie schon vor ihm Hölderlin oder Beethoven musste er seine Hoffnungen aufgeben. In diesen kritischen Jahren entstand 1804-12 die Wissenschaft der Logik, das sind für ihn die Jahre der Jenaer Systementwürfe und der Redakteurs- und Rektoratstätigkeit in Bamberg und Nürnberg. Wenn die Politik den an sie gesetzten Erwartungen nicht gerecht wurde, lag das für ihn daran, dass eine neue Epoche des Zusammenlebens der Menschen auch einer neuen Philosophie und Logik bedarf, die zu entwickeln er sich zur Aufgabe machte. Er setzte sie Schritt um Schritt zusammen aus den Überlieferungen der Ontologie, Metaphysik, Logik und Naturphilosophie. In der Reflexionslogik schuf er dagegen eine völlig neue Lehre. Sie ist das Herzstück seines Denkens. Später war er von seinem eigenen Erfolg so überzeugt, dass er 1818 den Ruf an die Universität Berlin annahm und dort zum Philosophen des aus den napoleonischen Kriegen gestärkt hervorgegangenen Preußens wurde und sich als Vollender der mit Luther begonnenen Reformation verstand. (Das zu vertiefen ist ein Thema für sich. Als Lektüre ist Heinrich Heine zu empfehlen, der 1821-23 bei Hegel studiert und 1834 für das französische Publikum Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland geschrieben hatte.)

Was ist das Besondere der Reflexionslogik? In der Lehre vom Sein geht Hegel von den Kategorien (kategoria) aus, wie sie von Aristoteles eingeführt worden waren. Das sind üblicherweise als erste Kategorie das Sein (ousia, die Substanz), und als deren Eigenschaften (Akzidenzen, symbebekoi) die zweiten Kategorien wie Qualität, Quantität und Relation, bisweilen werden auch Ort und Zeit hinzugenommen. Während seine Vorgänger die Kategorien einfach aufzählten und in Tafeln ordneten (so die Kategorientafel nach Kant), sieht er einen inneren Entwicklungsweg und betrachtet die Übergänge von einer Kategorie zur nächsten. Ähnlich hat er in der Begriffslogik die traditionellen Lehren des Begriffs, der verschiedenen Urteile und Schlüsse aufgenommen und auseinander entwickelt, statt sie einfach nebeneinander zu stellen (Urteilstafel) und formal zu beschreiben. Das war schon eine wesentliche Neuerung und beschreibt die Logik in ihrer inneren Lebendigkeit, doch wandelt er in der Lehre der Reflexionsbestimmungen (Reflexionslogik) die Metaphysik völlig um. Die überlieferten Reflexionsbegriffe Identität, Verschiedenheit, Widerspruch und Grund gehen bei Hegel weder wie die Kategorien ineinander über noch können sie wie die Begriffe, Urteile, Schlüsse und Ideen auseinander entwickelt werden, sondern sie  scheinen wechselseitig ineinander  und in sich selbst (Enz. § 161, HW 8.308), bilden also mit Nietzsche gesprochen ein Spiel der Erscheinungen. Was soll das bedeuten? Ist das nur eine Übersetzung des lateinischen Wortes reflexio in das deutsche Wort ‘Zurückbeugung’? Während die Übergänge der Kategorien und die Entwicklung der Begriffe, Urteils- und Schlussformen auseinander dem üblichen Vorgehen einer logischen Folgerung und einer Schluss-Kette entsprechen, in der eines dem anderen folgt, blieb unklar, was von Hegel mit dem Scheinen-in-Anderes oder In-sich-Scheinen gemeint ist. Hegel schreibt programmatisch: »Das Wesen ist das Scheinen seiner in sich selbst« (HW 6.23). Die bisherigen Deutungen haben sich entweder darauf beschränkt, Hegel zu paraphrasieren, und lassen einen ratlosen Leser zurück, der nach ihrer Lektüre nicht mehr weiß als zuvor, oder sie waren schlicht der Meinung, dass Hegel selbst nicht wusste, was er tat. Für die erste Richtung steht Christian Iber, der Zeile für Zeile die Reflexionslogik neu formuliert hat. Für die andere Richtung stehen Dieter Henrich und Hinrich Fink-Eitel. Henrich geht so weit anzunehmen, »daß er (Hegel, t.) selbst bei großer methodischer Anstrengung die Mittel nicht gefunden hätte, sich über die logische Praxis seines Grundwerkes zu verständigen« (Henrich 1971, 104), Fink-Eitel schreibt über Hegels Ausführungen zu den Reflexionsbestimmungen, »dass er (Hegel, t.) selber damit nicht zurande kam« (Fink-Eitel, 74).

Žižek findet demgegenüber einen neuen Ansatz und ist für mich der erste, dem es gelingt, Hegels Reflexionslogik aus einem größeren Horizont zu sehen. Dafür ist etwas auszuholen.

»Nach Jacques-Alain Miller müssen wir hier zwischen einem Mangel (lack) und einem Loch (hole) unterscheiden. Ein Mangel ist demnach räumlich, er bezeichnet eine Leere innerhalb eines Raumes, ein Loch dagegen steht für den Punkt, an dem diese räumliche Ordnung selbst zusammenbricht (wie beim 'Schwarzen Loch' in der Physik.« (WaN, 680) »Das goal ist das Objekt, um das der Trieb kreist, während sein wahrer Zweck [aim] die endlose Fortsetzung dieser Zirkulation als solcher ist.« (WaN, 681)

Für mich greift Žižek die Unterscheidung in erste und zweite Kategorien auf. Die zweiten Kategorien beziehen sich auf Eigenschaften und im weiteren Sinn auf Bewegungen innerhalb eines Systems. Dort können Mängel (lack) auftreten und rufen eine Bewegung hervor, sie innerhalb des Systems zu bereinigen. Mit dem Loch (hole) sind dagegen Mängel des Systems im Ganzen gemeint, die sich übergreifend in einer Systembewegtheit (Oszillation, Grundrauschen) äußern. Sie sind an jedem einzelnen Element, jeder Eigenschaft und an jedem Punkt des Systems spürbar und führen zu Phänomenen, die von Žižek als Exzess beschrieben wurden und nicht in den Horizont der Zeit passen. Das In-sich-Scheinen der Reflexion kann als der erste Versuch verstanden werden, für diese Bewegtheit, die sich an jedem einzelnen Element des Systems zeigt und zugleich auf das System im Ganzen deutet, eine angemessene Logik zu finden. Dieser Gedanke ist zwar so noch nicht bei Žižek ausgesprochen, aber er geht weit in diese Richtung. Während Hegel das Verhältnis der Reflexionsbestimmungen an ihnen selbst zeigen will, bindet Žižek es an das denkende Subjekt und dessen subjektive Verfasstheit. Es ist für ihn die Hysterikerin, die den Mangel des Systems spürt, aber nicht direkt kritisieren kann. Stattdessen nimmt sie an den einzelnen Elementen des Systems deren Verrücktheit wahr, übertreibt sie in ihrer unnachahmlichen hysterischen Art und enthüllt auf diese Weise, wie sich an den Elementen des Systems der Mangel des Systems zeigt. Dieser Gedanke ist bereits bei Hegel enthalten. Jedoch bindet Hegel ihn nicht an die subjektive Verfassung der Hysterikerin, sondern zeigt ihn an den Reflexionsbestimmungen selbst, die von sich aus objektiv ineinander scheinen und einander spiegeln, ohne dass es dafür eines hysterischen Subjekts bedarf. (Žižek hatte das in seiner früheren Schrift Die Nacht der Welt wesentlich deutlicher ausgeführt. Dort ist ein Kapitel überschrieben Hysterie und Reflexion. In Weniger als nichts entfernt er sich vorsichtig, aber nicht vollständig von dieser subjektivistischen Haltung.)

Der Exzess ist ein erster Hinweis, wie das zu verstehen ist. Der Exzess entsteht aus einem unscheinbaren Mangel, bis er eine Eigendynamik entwickelt, die weit darüber hinaus geht. Im Exzess sucht die Bewegung nicht nach einer Lösung eines bestimmten, einzelnen Mangels, sondern ihr eigenes verzweifeltes Kreiseln, ihre Bewegtheit im Ganzen ist dasjenige, was sie sucht. Sie kann sich das nur nicht eingestehen. In diesem Sinn kann Žižek schreiben: »Die größte Täuschung besteht darin, nicht zu erkennen, dass man schon hat, wonach man sucht.« (WaN, 282) Das, was man sucht, ist nicht irgendein Ding, das in Besitz genommen werden soll, oder irgendeine Eigenschaft, die es mithilfe geeigneter Anstrengungen, Therapien oder bewusst vollzogener Wechsel des eigenen Lebensentwurfs zu erreichen gilt, sondern die Bewegung der Suche selbst.

Gödel hatte nachgewiesen, dass jedes formale, ausreichend komplexe System eine Unvollständigkeit besitzt. Žižek kann das mit Lacan und Miller genauer differenzieren. Die Unvollständigkeit kann entweder ein Mangel im System sein, oder das Loch des Systems. »Wenn uns zum Beispiel bei einer überwältigenden Erfahrung 'die Worte fehlen'«, enthält die Sprache einen Mangel (WaN, 816). Wir erleben etwas, nehmen es in unser Bewusstsein auf, verdrängen es auch nicht wie ein Trauma, und dennoch gelingt es nicht, es angemessen sprachlich zu fassen. Mängel dieser Art waren Thema der Sprachkritik um 1900. Jeder Mangel ruft eine Bewegung hervor, ihn zu beseitigen, sei es, dass in der Ordnung neue Worte und Namen eingeführt, die Syntax erweitert oder in einem Paradigmen-Wechsel der komplette Zuschnitt verändert werden. In der Mathematik stellte im Jahr 1900 Hilbert die berühmte Liste von 24 Problemen auf und erwartete, dass sie vollständig innerhalb der gegebenen Mathematik gelöst werden können. Alle diese Fortschritte werden jedoch nie das grundsätzliche Problem lösen, dass immer eine Unvollständigkeit zurückbleibt. Daher sind die Unvollständigkeitssätze von Gödel ein Beispiel, an allen formalen System deren systemischen Mangel (hole) nachzuweisen.

Diese Einsicht führt zum negativen Ergebnis, dass nie die Bewegung abgeschlossen werden kann, Mängel zu beheben. Schon Kant hatte das gespürt und war sich bewusst, dass es nicht genügt, die Regeln zu finden, wie Erscheinungen gebildet werden, sondern es gibt im Hintergrund einen focus imaginarius, der all diese Versuche krümmt und sie letztlich aus der Bahn wirft und alle gut gemeinten Pläne ins Leere laufen und verfehlen lässt (KrV, B 672, siehe hierzu den Beitrag Die Sphäre des Begriffs und die Logik der Sphäre von 2014). Jede Reflexion enthält einen für sie unfassbaren Punkt in ihrem eigenen Rücken, mithilfe dessen die Reflexion erfolgt, der sich jedoch der Reflexion entzieht. Žižek greift das Bild des focus imaginarius auf, jedoch ohne sich auf Kant zu beziehen.

»Der Trieb gehört zur Natur, aber einer aus den Fugen geratenen, durch die Kultur verzerrten und deformierten Natur; er ist Kultur im Naturzustand. Aus diesem Grund ist der Trieb eine Art focus imaginarius oder Treffpunkt von Psychoanalyse und kognitiver Neurowissenschaft: die Paradoxie des sich selbst antreibenden Kreislaufs, auf dem das gesamte Freudsche Gebäude beruht.« (WaN, 750)

Für Lacan zeigt sich die Erfahrung des focus imaginarius im Spiegelstadium, wenn sich ein Kind erstmals selbst im Spiegel erkennt und daraus lernen muss, dass es niemals eine vollständige Innen- und Außensicht seiner selbst gewinnen kann. Die Erfahrung dieses Scheiterns ist für Lacan die Geburtsstunde des Subjekts. Und des Exzesses: Wer erfahren hat, dass er nie ein vollständiges Bild seiner selbst fassen oder modeln kann, droht in den Exzess unendlicher Selbstbetrachtungen, Therapien und Verhaltensumstellungen zu geraten.

Das gilt für Žižek nicht nur für die Psychoanalyse seit Freud, sondern auch für Hegels Reflexionslogik. Es ist bereits vorgeprägt im ‘Anstoß’ bei Fichte. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) trug 1794 in Jena erstmals seine Wissenschaftslehre vor. Ein Hörer war der junge Hölderlin, der sowohl mit Fichte wie mit Hegel und Schelling, seinen Studienfreunden aus Tübinger Zeit intensiv darüber diskutierte. Fichte erkannte die Lücke in der Philosophie von Kant: Sie ist bei Kant bereits mit dem focus imaginarius angesprochen, jedoch noch nicht in ihrer systematischen Bedeutung ausgearbeitet. An dieser Stelle geht Fichte weiter. Er war sich bewusst, dass sich das Denken niemals ausschließlich in seinem eigenen Innern bewegen kann und jede schrittweise vorgehende Argumentation am Anfang eines Anstoßes bedarf, der von außen kommen muss, den sie in ihrer Argumentation nicht ihrerseits fassen kann, sondern voraussetzen muss. Im Sinne von Wittgenstein lässt sich sagen: Die Sprache kann diesen Anstoß nicht in Worte fassen, aber sie kann ihn im gesamten Gang des Sprechens zeigen. Er zeigt sich nicht an einzelnen Worten, sondern der Sprache im Ganzen. Žižek verteidigt diesen Gedanken von Fichte gegen die von Henrich 1973 in seiner Vorlesung Between Kant und Hegel vorgetragene Kritik (WaN, 238-263), als Henrich auf dem Weg war, sich der in den USA dominierenden rein analytisch denkenden Philosophie anzunähern und am liebsten den Weg von Hegel zu Kant wieder zurückgehen würde.

Innerhalb dieses Gedankengangs zum Anstoß bei Fichte entwickelt er seine Deutung der Hegelschen Reflexion. So wie auf der einen Seite ein äußerer Anstoß notwendig wird, der innerhalb des Systems nicht erfasst werden kann und nur negativ wie eine »Gräte im Hals« oder ein Loch präsent ist, so kann andererseits dessen Präsenz an der von ihm ausgelösten Bewegung des Systems im Ganzen erkannt werden. Damit nimmt er den Gedanken von Kant wieder auf, nicht einfach den Schein als bloßen Schein zu kritisieren, sondern nach den Regeln zu fragen, die sich am Schein zeigen und dessen Entstehen erklären. Das ist für ihn die zirkuläre Bewegung der Reflexion, deren Scheinen-in-sich. Er sieht sie in den »präzisen und unübertroffenen Formulierungen« von Hegel über die setzende Reflexion, in denen dieser für einen Logiker völlig ungewöhnlich im Futur II schreibt:

»Die Reflexion also findet ein Unmittelbares vor, über das sie hinausgeht und aus dem sie die Rückkehr ist. Aber diese Rückkehr ist erst das Voraussetzen des Vorgefundenen. Dies Vorgefundene wird nur darin, daß es verlassen wird« (HW 6.27, zitiert WaN, 259).

Während beim linearen Vorgehen des Übergangs und der Entwicklung ein Schritt dem anderen folgt und jeder die Voraussetzung des ihm nachfolgenden ist, handelt es sich bei der Reflexion um die Setzung in einem noch unbekannten Raum, die dort im Laufe ihrer Bewegung ihre eigenen Voraussetzungen finden und klären muss. Der Übergang und die Entwicklung sind Beispiele für ein Homologie-Denken, das sich implizit auf die Existenz einer zugrunde liegenden Reihe (eine Homologie) verlassen kann, entlang derer sie voranschreitet. Das ist für die Setzung nicht möglich. Sie entsteht in dem Moment, an dem die Wissenschaft der Logik alle Möglichkeiten weiterer Übergänge ausgeschöpft hat und in absolute Indifferenz geraten ist. Die Setzung kann sich nicht auf eine gegebene Voraussetzung stützen, sondern im Moment der Setzung sind ihr ihre eigenen Voraussetzungen noch unklar. Die Setzung wird getragen von dem äußeren Anstoß oder einem Trieb, der sich selbst nicht fassen kann, der aber zu ständig neuen Setzungen befähigt, die ihr jeweiliges Umfeld schrittweise erkunden und erschließen. Das wird nie vollständig sein und immer einen neuen Mangel enthalten.

Erst im Verlaufe der Setzung werden rückblickend die mit ihr mit-gesetzten Voraussetzungen deutlich. Mit der Setzung wird ein neues Feld eröffnet, dessen eigener Horizont erst erschlossen werden muss.

Beispiel: Von Licht kann nur gesprochen werden, wenn es sich abhebt von einer umgebenden Finsternis, die daher implizit eine Voraussetzung des Lichts ist. Umgekehrt gibt es nur Finsternis gegenüber einem Licht. Jedes enthält das andere als seinen eigenen Gegensatz an sich, setzt also – um bestehen zu können – sein eigenes Gegenteil voraus. Das führt in einen Widerspruch. Ein Widerspruch ist nur zu verstehen vor dem Grund, in den er eingetragen ist und in den er – in einer paradoxen Formulierung – zu Grunde geht. Der Gegensatz von Licht und Finsternis besteht nur, wenn es ein Medium (einen Grund) gibt, in dem das Licht aufscheinen und die Finsternis abgeschattet werden kann. Erst wenn der Widerspruch in dieser Weise verstanden wird, ist er nicht mehr einfach Anzeichen für einen Fehler und der Nachweis, dass die Wissenschaft geirrt hat und einen neuen Weg suchen muss, sondern umgekehrt der innere Bewegungsquell aller Wissenschaft. Mit jedem Widerspruch sind zugleich dessen Voraussetzungen (sein Grund) gesetzt, und das treibt die Wissenschaft an.

In diesem Sinn lässt sich das Beispiel des Photons neu aufgreifen. Aus dem Innern eines Systems heraus gesehen ist das Photon nichts weiter als ein übliches Teilchen, das z.B. die Netzhaut des Auges trifft und etwas sehen lässt. Wer aber versucht, sich auf den Standpunkt des Photons zu stellen, wird einen Widerspruch erleben. Während es ohne Weiteres möglich ist sich vorzustellen, die Welt nicht von der Erde, sondern beispielsweise von der Sonne aus zu sehen (Heliozentrismus), ist es unmöglich sich vorzustellen, die Welt vom Photon aus zu sehen ("Photozentrismus"). Nach den Regeln der Relativitätstheorie ist im Übergang in den Zustand eines Photons der Alterungsprozess zum Stillstand gekommen (Zeitdilatation, Zwillings-Paradoxon). Ein Photon altert nicht. Es ist unmittelbar präsent an allen Orten und Zeiten der uns vertrauten Welt (Längenkontraktion). Es ist ein Teilchen mit dem Doppelcharakter (Widerspruch), zugleich als Teilchen im System präsent zu sein und sich dort wie alle anderen Systemelemente zu bewegen, wie auch das System im Ganzen zu umfassen. Das entzieht sich der menschlichen Vorstellungskraft, ist aber für mich die Antwort auf die Frage, was inhaltlich mit dem von Žižek genannten Exzess des Photons gemeint ist.

Žižek vergleicht die Bewegung des Hinausgehens und dort die eigenen Voraussetzungen-Erkennens mit dem zweiten Futur bei Lacan.

»Was sich in meiner Geschichte verwirklicht, ist nicht die abgeschlossene Vergangenheit (passé défini) dessen, was ich war, weil es nicht mehr ist, auch nicht das Perfekt dessen, der in dem gewesen ist, was ich bin, sondern das zweite Futur (futur antérieur) dessen, was ich werde gewesen sein, was zu werden ich im Begriff stehe.« (Lacan Schriften I, 143, zitiert WaN, 697)

Erst haben die Setzungen (die spontanen Handlungen eines Menschen) die Zukunft ermöglicht, und dann wird in der Zukunft reflektiert, welche impliziten Voraussetzungen dabei angenommen worden waren, die später erwünschte oder unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen und meist mit unvermeidlichen Unklarheiten und Fehlern behaftet waren. Das, was heute geschieht, wird in seiner vollen Bedeutung erst in der Zukunft erfasst, wenn diese in dem, was bereits geschehen sein wird (Futur zwei) ihre eigenen Voraussetzungen erkennt und als solche zu setzen vermag.

Dieser großartige Gedanke über die innere Bewegung und Bewegtheit der Reflexionslogik wird bei Žižek zugleich dramatisiert mit einer ethischen und politischen Überhöhung. Anders als für Hegel ergibt sich für ihn die Setzung der Voraussetzungen im Futur II nicht aus dem objektiven Gang der Denkbestimmungen, sondern aus der Subjektivität des Denkenden. Es ist für ihn das Subjekt, das seine Entscheidungen nachträglich mit einem symbolischen System, einer eigens für den jeweiligen Anlass geschaffenen Ideologie rechtfertigen will. Für ihn gilt, "daß eine Entscheidung ein Akt ist, der retroaktiv seine eigene Ursache begründet" (Žižek, Die Nacht der Welt, 154) In Weniger als nichts radikalisiert er das nochmals. Für ihn setzt jede große politische Tat wie die französische oder russische Revolution etwas Neues. Jede Setzung beruht auf einer Tat und begibt sich auf ein noch unvertrautes Feld und begeht notwendig Fehler. Das gilt bis in die religiöse Geschichte. »Adam und Eva mussten sündigen, damit Christus uns erlösen konnte; Judas musste Christus verraten, damit dieser seinen Auftrag erfüllen konnte.« (WaN, 753) Erst im nachhinein wird deutlich, was sie geleistet haben, und können auch die Fehler verstanden und korrigiert werden. Das führt Žižek so weit, dass für ihn im Moment der Setzung nicht nur ein Zustand vorliegt, der sich seiner Voraussetzungen unsicher ist, sondern auch die bannende Wirkung des Heiligen versagt und alle ethischen Regeln verletzt werden. Für ihn besteht in diesem Moment nicht nur Unsicherheit über die Ethik, sondern für ihn ist dieser Schritt nur möglich, indem die Regeln der Ethik verletzt und übertreten und die Opfer der Revolution zum Gründungsmythos einer neuen Ordnung werden. Wer etwas setzt, kann das nur, wenn er ein Verbrechen begeht und das Opfer eines anderen der Preis seines Erfolges ist. Mit diesem Argument kritisiert er Pippin, »der einzige Denker, der die Förderung der 'bürgerlichen Philosophie' mutig zum Ziel erklärt« und der nach Žižek übersieht, »dass für Hegel die moderne bürgerliche Gesellschaft nur aus der Vermittlung durch den Schrecken der Revolution hervorgehen konnte«. Erst angesichts der »Exzesse wie Auschwitz« fragt sich Žižek, ob wirklich »notwendige Umwege« dieser Art erforderlich sind (WaN, 719), vermag jedoch kein Kriterium anzugeben, wie weit die notwendigen Opfer gehen dürfen.

Wie nicht anders zu erwarten wehrt sich Pippin. Für ihn kehrt Žižek mit Schelling in ein gegenaufklärerisches Denken zurück, wenn er bei Schelling an dessen »beiden absoluten Meisterwerken [...], die Freiheitsschrift und die drei Fassungen seines 'Weltalter'-Manuskripts« eine »vollkommen neue Welt« sieht: »die Welt der vorlogischen Triebe und der dunkle 'Grund des Seins'« (WaN, 26). Dann wird »der Ursprung des Bösen nicht mehr im Abfall des Menschen von Gott verortet, sondern in einer Spaltung im Innersten von Gott selbst« (WaN, 26). Die Menschen sind höchstens bedingt verantwortlich für ihr Tun, denn letztlich sind ihre Verbrechen Äußerungen des mit sich selbst verfallenen Gottes. Mich erinnert das an Heidegger, der nie zu einer Reue fähig war für das, was er im Nationalsozialismus getan und unterstützt hat, und stattdessen vom Seinsgeschick sprach, dem unser Denken und Handeln unterliegt. Dagegen erinnert Pippin einen erklärten Hegelianer wie Žižek daran, wie Schellings Suche nach einem Indifferenzpunkt, der »weder Subjekt noch Objekt [ist] (was Hegels berühmte Bemerkung veranlasste, dass 'in der Nacht alle Kühe schwarz' seien, die der beiden Freundschaft zerstörte)« (Pippin, 409f mit Bezug auf die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, HW 3.22). Für Pippin fällt Žižek auf die Position von Schelling zurück. Angesichts der Nacht eines in sich gespaltenen Gottes und des abgründigen Aktes einer von allen Bindungen gelösten, absoluten Setzung werden alle Kühe schwarz, das heißt gehen alle rationalen Überlegungen und moralischen Skrupel verloren. Žižek reißt die Reflexionslogik aus ihrem Zusammenhang und setzt sie absolut, statt der Frage nachzugehen, wie Hegel sie im inneren Zusammenhang der Wissenschaft der Logik im Ganzen begründen wollte.

Wenn ich es recht verstehe, nimmt Pippin den Grundgedanken von Kant wieder auf und wendet ihn gegen Žižek, der ihm nicht treu geblieben ist. So wie Kant sich darauf beschränkt, an den Erscheinungen ihre Logik und indirekt Wirkungen eines verborgenen focus imaginarius zu erkennen, sieht Pippin das bei Hegel fortgeführt, wenn dieser sich darauf beschränkt, an den Denkbestimmungen  deren Logik zu entwickeln und nicht aus einem ihnen vorausgehenden Urgrund. Er kann Žižeks Faszination von einem Realen, das nicht nur eine Bewegung, sondern einen »Exzess« hervorruft, nicht teilen. Seine Kritik kulminiert im Vorhalt:

»Der erste Satz von Žižeks Schluss ['Die politische Suspension des Ethischen'] – 'Die Nichtexistenz des grossen Anderen signalisiert, dass jedes ethische beziehungsweise moralische Gebäude auf einem abgründigen Akt gegründet werden muss, der im radikalsten Sinne politisch ist.' – ergibt null Hegelschen Sinn. Das Handeln eines Akteurs, verstanden als 'abgründiger' Akt, ist ein Trugbild, das Pathos aufgeblasenen und aufgesetzten Heroismus, ein Gestus, der in den Hegelschen Zoo gehört zusammen mit der schönen Seele, dem Ritter der Tugend und insbesondere dem Wahnsinn des Eigendünkels
   »Es schaudert einem vor dem Gedanken, wie viele solcher narzisstischen Täter es auskosten, wie das 'Unendliche' sich in ihnen kristallisiert.« (Pippin, 423 incl. Fußnote 36, mit einem Zitat WaN, 1307 und Verweis auf die Kapitel Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels und Die Tugend und der Weltlauf in Hegels Phänomenologie des Geistes, HW 3.275-291)

Und doch lohnt es sich, den von Žižek eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Ohne es weiter auszuführen, gibt Pippin in einigen Punkten Žižek recht. Er nennt die »Retroaktivität«, das ist die Bewegung, wenn die Reflexion »ihre eigenen Voraussetzungen setzt«. (Pippin, 424) Hegel hat nicht nach einem vorlogischen Urgrund gefragt oder gesucht, aber er hat gezeigt, wie im Scheinen der Reflexionsbegriffe ineinander im Reflexionsbegriff ‘Widerspruch’ der Reflexionsbegriff ‘Grund’ aufscheint. Es wird nie möglich sein, aus einem Widerspruch auf einem Grund zu schließen. Wer Hegel in dieser Weise auf ein Verstandesdenken herunterzieht, ist sich des Spottes von Kritikern wie Popper sicher, für den gemäß der traditionellen Logik aus einem Widerspruch Beliebiges folgt und jede Wissenschaft daher versuchen muss, Widersprüche zu vermeiden. Ganz anders Hegel. Im Moment des Widerspruchs kommt es zu einer Oszillation des Scheinen-ineinander, und in dieser Oszillation zeigt sich der Grund. Für Hegel ist es die »Sache an sich selbst«, die in diesem Moment »in die Existenz (tritt)« (HW 6.118, 122). Damit nähert sich Hegel für mich der Lehre von Aristoteles über den Stoff an, – wenn mit der Sache der Stoff gemeint ist, um den es geht –, ohne zu fragen, welche Auswirkungen das auf die Architektur seiner Philosophie hat. Doch gehen weder Žižek noch Pippin weiter auf diese Frage ein. Siehe hierzu einen eigenen Beitrag über die Auflösung des Widerspruchs in den Grund.

Letztlich geht es um eine minimale, jedoch alles entscheidende Differenz. Walter Schulz hat die Position von Schelling zusammengefasst: »Die Vernunft erfährt, daß sie sich voraus einen Grund setzen muß, der, an ihm selbst nie in das Denken eintretend, die ständige Möglichkeit ihres Setzens ist.« (Schulz, 6) Für Schelling verweist das Denken auf eine Voraussetzung, die dem Denken vorausgeht und von ihm nie erfasst werden kann. Wenn Schelling dennoch Aussagen über den Urgrund und insbesondere den in ihm verborgenen Grimm und das Böse trifft, verlässt er bewusst das Denken und begibt sich in den Mythos. Von dieser Haltung hat sich Hegel in den Jahren um 1804 abgewendet und beschränkt sich in der Tradition von Aristoteles darauf, an der Bewegung und Bewegtheit das Verhältnis von Identität, Unterschied, Widerspruch und Grund nachzuweisen und als In-sich-Scheinen zu bestimmen. Im Futur II eröffnet sich für mich der Raum, in dem die Bewegungen der Elemente innerhalb des Systems und die Systembewegtheit im Ganzen unterschieden werden können. Das zu beschreiben erfordert weitere Arbeit, für die die Reflexionslogik von Hegel einen wichtigen Beitrag leisten kann. Žižek kommt dem nahe. Aber er hat sich offenbar an einem entscheidenden Punkt von der Erfahrung beeindrucken lassen, wie in unserer heutigen Zeit Ideale aufgegeben werden und daraus geschlossen, dass Schelling in seiner mystischen Sicht des Urgrund und des in ihm angelegten Verhängnisses recht hat. Daher gilt es für mich, bei Žižek deutlich auseinander zu halten, wo er Hegel und wo er Schelling folgt. In jedem Fall kann von Žižek gelernt werden, diese Frage erstmals in dieser Deutlichkeit zu stellen und an einer Lösung zu arbeiten.

Anmerkung: Eine verwandte Deutung sehe ich bei Claus-Artur Scheier (* 1942). Er zitiert in Luhmanns Schatten (2016) in einer Fußnote die von Žižek genannte Stelle, wonach die Reflexion wesentlich die Voraussetzung dessen ist, »aus dem sie die Rückkehr ist« (Scheier, 70 Fn. 218). Für ihn zeigt sich hier der von Spencer-Brown eingeführte und von Luhmann aufgenommene Re-entry. Aus Sicht des linearen Fortschreitens innerhalb eines Systems treten mit dem Re-entry implizite Voraussetzungen in das System ein, die sich zuvor in einer Supplement-Bildung verselbständigt hatten. Das ist für mich ein Hinweis, in welcher Richtung an den genannten Fragen weiter geforscht werden kann. Letztlich geht es es um das Thema der von Spencer-Brown genannten Zyklizität der imaginären Zahlen. Konkret: Für mich geht es im Weiteren vor allem um zwei Ziele: Am Beispiel des Photons die Verschränkung von Bewegung innerhalb eines Systems und Systembewegtheit zu untersuchen, und weiter an den Eigenschaften der imaginären Zahlen zu arbeiten.

Die Nahtlinie von Subjekt und Objekt

Bei aller berechtigten Kritik an der von Žižek vertretenen Suspension des Ethischen soll nicht übersehen werden, dass Žižek mit seiner Deutung des Subjekts ein ähnlich großer Wurf gelungen ist wie in seinem Verständnis des In-sich-Scheinens. Er bringt auf originelle Weise zwei Vorläufer zusammen: Der Gedanke von Marx, wie jede Gesellschaftsform in ihrem Innern die Produktivkräfte heranwachsen lässt, die im nächsten Zug über die jeweilige Gesellschaftsform hinausgehen werden, und Lacans Theorie der Entstehung des Subjekts aus der Erfahrung des Spiegelstadiums. Bei Hegel gibt es an dieser Stelle eine Lücke. Hegel betont die innere Entwicklung von Widersprüchen und nennt die Negativität als deren treibende Kraft. Er spricht von Unruhe, aber er lässt offen, wie weit die Lebendigkeit des sich selbst bewegenden Begriffs reicht, die sich mit mathematischer oder göttlicher Strenge und zugleich in innerer Freiheit vollziehen sollte, und an welcher Stelle der sich bewegende Begriff eines endlichen Subjekts bedarf, in dessen Denken und Handeln er sich zeigen und aufscheinen kann. Was ist mit der Lebendigkeit des Begriffs gemeint, von der Hegel spricht? Ist es ein absurdes philosophisches Phantasma zu sagen, dass die Gedanken sich in ihrer eigenen Lebendigkeit selbst denken, ohne dass es einen Menschen gibt, der sie denkt? Žižek legt nahe, die Lebendigkeit der Gedanken im Sinne seiner Idee von Weniger-als-nichts als etwas zu verstehen, das darauf wartet, dass es jemanden wie den Menschen gibt, der sie denkt und in dessen Denken sie aufscheinen können. Die Gedanken sind gewissermaßen das Higgs-Feld, das sich in den Wechselwirkungen der Materie zeigen und ihnen ihren Gehalt verleihen kann.

Dieser Vergleich gewinnt an Stärke, wenn noch etwas hinzugenommen wird: So wie es in den von der Physik betrachteten physikalischen Prozessen zum Kollaps kommt, wenn im Messprozess die Unendlichkeit des Möglichkeitsraums in die Endlichkeit der Wirklichkeit tritt, so verhält es sich nach Žižek an der Nahtlinie, an der die Unendlichkeit der Gedanken im Denken eines endlichen Subjekts aufscheint. Auch hier kommt es zu einem Kollaps, wenn der an sich unendliche Gedanke gebrochen wird durch die endliche Auffassungs- und Denkfähigkeit des Subjekts, das ihn denkt. Seine Unendlichkeit kann sich nur zeigen in der Bewegung der misslingenden Versuche eines endlichen Denkens, ihn zu fassen.

Mit misslingenden Versuchen sind nicht psychische Mängel einzelner Menschen gemeint, die sich z.B. aus ihrem Narzissmus heraus in ihrem Denken oder Denkgebäuden zu scheinbarer Größe aufblähen. Solche Mängel ließen sich möglicherweise therapieren, aber der Widerspruch der Endlichkeit der denkenden Menschen und der Unendlichkeit der von ihnen gedachten Gedanken bliebe bestehen. Auch Kants Kritik am überfliegenden Denken trifft das nur halb. Er hatte gefordert, »man solle sich wenigstens darüber rechtfertigen, wie und vermittelst welcher Erleuchtung man sich denn getraue, alle mögliche Erfahrung durch die Macht bloßer Ideen zu überfliegen« (KrV B 666). Das legt nahe, als wäre es eine Sache des Sich-trauens, in seinem Denken den Bereich der Erfahrungen zu überfliegen, die einem endlichen Subjekt möglich sind. Aber das Denken kann gar nicht anders, als alle mögliche Erfahrung zu überfliegen. Das Überfliegen gehört zu seiner Natur. Es geht nur darum, sich dessen bewusst zu werden und einzusehen, dass die prinzipiell überfliegenden Gedanken eines endlichen Subjekts einen inneren Widerspruch enthalten. Es liegt in der Natur des Menschen und der von ihm gedachten Sätze, wenn sein Denken mit dem Satz eine Form annimmt, in der der Satz grundsätzlich über den Erfahrungshintergrund hinausschießt, aus dem er formuliert worden war. Wenn vom Feminismus dem Denken dessen Männlichkeit vorgeworfen wird, die sich immer irgendwo in dessen lächerlichen Zügen zeigt, nimmt Žižek diese Kritik auf und wendet sie neu. Es stimmt: Jeder Gedanke, der der Form nach unendlich ist, aber von einem endlichen Subjekt gedacht wird, enthält nicht nur einen Mangel (lack), der im Verlaufe weiterer Erkenntnis behoben werden kann, sondern wird immer an sich selbst auf den Menschen verweisen, der in seiner Endlichkeit nie einen unendlichen Gedanken formulieren kann, ohne sein Ziel (das goal) zu verfehlen, jedoch der Bewegung des Denkens als seines wahren Ziels (aim) fähig ist. Diese Erkenntnis gilt für alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer psychischen Verfassung. Der am Denken und in einem abstrahierenden Schritt  an den Denkbestimmungen  nachweisbare Verweis auf das endliche Subjekt, das ihn denkt, ist die von Žižek genannte Nahtlinie von Subjekt und Objekt. Mit Denkbestimmungen ist hier nicht eine Merkmalsliste von Prädikaten gemeint, mit denen das Denken gemessen und klassifiziert werden kann, sondern die Lebendigkeit des Denkens. Der Mensch kann  an der Lebendigkeit der von ihm gedachten Gedanken zweierlei erkennen: Die innere Lebendigkeit der Gedanken, die in seinem Denken aufscheint, wobei das Denken ununterscheidbar von der Lebendigkeit seiner eigenen Gedanken ergriffen wird und sie zu ergreifen vermag, und die eigene Subjektivität in ihrer Vergänglichkeit, die sich darin zeigt, wie jeder von ihm gedachte Gedanke im Einzelnen sein Ziel verfehlt, aber in der gesamten Bewegung des Verfehlens das Subjekt in seiner jeweiligen Einmaligkeit hervortritt.

Hegel hat sich dieser Einsicht auf eigentümliche Art in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes genähert. Jeder Satz enthält in seinem Innern ein Subjekt, über das er spricht, und ein objektives Prädikat, mit dem etwas über das Subjekt ausgesagt wird. Zugleich gibt es im Äußeren ein Subjekt, das diesen Satz spricht. Im gewöhnlichen Denken bleiben diese beiden Seiten klar voneinander getrennt. Im spekulativen Satz kommt es zu einer inneren Bewegung dieser beiden Seiten, die zu einer höheren Harmonie findet.

»Der Rhythmus resultiert aus der schwebenden Mitte und Vereinigung beider. So soll auch im philosophischen Satze die Identität des Subjekts und Prädikats den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernichten, sondern ihre Einheit [soll] als eine Harmonie hervorgehen.« (HW 3.59)

So wie im Alltag am Tonfall, der Stimmlage und dem Sprachfluss, an rhetorischen Versprechern und unwillkürlichen Pausen die innere Erregung und darüber der subjektive Anteil einer Aussage abgelesen werden können, gilt es allgemein für alle Sätze. Jeder Satz ist brüchig und kann daher vernichtet werden. In einem Gedanken voller Zuneigung will Hegel die Fähigkeit der Vernichtung wenden in eine Harmonie. An den Stellen, an denen ein Satz seine Schwäche zeigt, kann sich auch – wie im oben genannten Beispiel des misslungenen Liebesbriefes – umgekehrt die Zuneigung entfalten, die am anderen Subjekt dessen Schwäche und Wünsche erkennt und darüber in einer Bewegung der Harmonie die ähnlich geartete eigene Schwäche und Hoffnung, die sich noch schwerer ertragen lassen als die Fehler anderer.

In einem genialen Schachzug fügt Žižek daraus zwei Gedanken zusammen: (i) Das Subjekt steht nicht dem Objekt gegenüber, sondern er zeigt in Anlehnung an Hegel, wie das Subjekt aus der Bewegung des endlichen (physischen, vergänglichen) Objekts hervorgeht. (ii) Mit dem Subjekt entsteht innerhalb der dialektischen Bewegung die Kraft und der Trieb, diese Bewegung voranzutreiben, worauf wiederum das Objekt angewiesen ist. Für Žižek sind sie der »Punkt der Subjektivierung im Gewand einer Unterart der 'objektiven' Elemente des Sozialkörpers«, eine »Nahtstelle« (WaN, 107).

Die Bewegung entlang der Nahtstelle von Subjekt und Objekt ist für Žižek dem In-sich-Scheinen der Reflexionsbestimmungen vergleichbar, die sich in einen Raum des Setzens wagen, in dem erst nachträglich die erforderlichen Voraussetzungen erkannt werden. »Das Ich, zu dem der Geist zurückkehrt, wird just in dieser Rückkehrbewegung erzeugt, oder anders gesagt: Das, zu dem der Rückkehrprozess zurückkehrt, wird durch ebendiesen Rückkehrprozess hervorgebracht.« (WaN, 324) So wie jede Setzung im Moment der Setzung unvollständig und mit Fehlern und Opfern verbunden ist, die sich erst im Verlaufe der weiteren Entwicklung (im Futur II) aufklären und beheben lassen, ist es auch mit dem Subjekt. An jeder Setzung zeigt sich ein Subjekt, das diese Setzung vollzieht. Beim ersten Hinsehen ist das Subjekt noch nicht einmal als ein Subjekt erkennbar. Es scheint sich um einen rein objektiven Prozess zu handeln. Für Hegel zählt die Reflexion zur objektiven Logik. Es scheint so zu sein, dass die Sache aus sich heraus handelt. So wie ein chemischer Prozess aus sich heraus zu neuen Bindungen und im Resultat zu neuen chemischen Stoffen und Zuständen führt, scheinen es eherne, objektive Gesetze der Geschichte zu sein, aufgrund derer Reiche untergehen und Revolutionen erfolgen. Die handelnden Menschen (Subjekte) erscheinen als bloßes Werkzeug von Prozessen, die über sie hinausgehen und von denen sie getrieben und oft genug überwältigt werden.

Und doch bedürfen sowohl die ökonomische und politische Geschichte wie auch in größter Abstraktion die objektive Logik handelnder Subjekte. Es würde keine Logik geben, und jede bloß objektiv gegebene Notwendigkeit würde in einem Zustand der Verharrung bleiben, wenn es niemanden gibt, der sie ergreift, logisch denken kann und spricht und handelt. Die hier auftretenden Subjekte haben eine eigentümliche Unfertigkeit, wie es unübertroffen Luigi Pirandello in seinem Stück Sechs Personen suchen einen Autor beschrieben hat. Die handelnden Subjekte erschaffen sich auf paradoxe Art selbst in einem Vorgang, in dem sie halb bewusst und halb unbewusst objektive Erfordernisse aufgreifen und zu verwirklichen suchen. Die objektive Lage (die Sachen) findet nicht einfach Subjekte vor, die darauf warten und darauf vorbereitet sind, entsprechend zu handeln, sondern es gehört zur objektiven Situation, dass die jeweils lebenden Subjekte ihrerseits unfertig sind und sich selbst erst in dem gleichen Prozess hervorbringen, in dem sie die jeweilige Sache verwirklichen. So wie auf paradoxe Art die Setzungen einerseits nur möglich sind, wenn die erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind, andererseits aber die Voraussetzungen erst retroaktiv im Vorgang der Setzung und ihrer Erfolge und Fehlschläge deutlich werden, verhält es sich mit Objekt und Subjekt. Die Subjekte sind sowohl zerrissen zwischen ihnen fremd erscheinenden Beweggründen ihres Handelns und ihren persönlichen Freuden und Schmerzen in diesem Prozess, wie sie zugleich aus dieser Spannung ihre eigentümliche Kraft gewinnen. Der objektive Prozess wäre unmöglich, wenn es nicht Subjekte dieser Art geben würde.

Wer sich auf den objektiven Standpunkt stellt bzw. so tut, als könne er seine subjektive Beschränktheit abwerfen und im Namen der objektiven Gesetze sprechen, hat daher den tatsächlichen Menschen gegenüber eine widersprüchliche Haltung. Er will sie zum einen reduzieren zu bloßen Ressourcen des geschichtlichen Prozesses und hat geradezu panische Angst, sie könnten aufgrund ihrer Unvollkommenheit den Erfolg des Ganzen gefährden, und hat andererseits irgendwo tief im Innern eine tiefe Liebe zu den Menschen, um derenwillen letztlich die Geschichte handelt. Hier scheint mir der persönliche Erfahrungshintergrund von Žižek zu liegen, aus dem er für sein Denken und Agieren seine Kraft wie auch seine Schwäche bezieht. Er hat im Stalinismus bis zur Karikatur und Groteske erlebt, wie im Namen der objektiven Gesetze gesprochen und ohne jede Hemmung Menschen geopfert wurden. Und doch ist auch umgekehrt eine Gesellschaft lebensunfähig, die völlig auf Subjektivität und jede Verankerung in objektiven Prozessen beruht. Daraus ergibt sich immer wieder neu der Ruf nach »starken Männern« und in Osteuropa eine Renaissance des Gedenkens an Stalin (in Westeuropa kann an Staatsmänner wie Napoleon gedacht werden).

Immer werden Vertreter der Avantgarde voller Verachtung auf die Philister schauen, die nie etwas wagen und gerade darin scheitern, dass sie es nie darauf ankommen lassen, scheitern zu können, wie umgekehrt die Vertreter gewohnter und Sicherheit gewährender Ordnungen diejenigen am liebsten ins Leere laufen lassen würden, die sie in ihrer Ruhe aufzustören drohen, ohne die sie aber weder das geworden wären, was sie sind, noch irgend eine Art von Kreativität aufrecht erhalten könnten. Wenn es Hegel nach seinen Erfahrungen in Folge der Französischen Revolution und der romantischen Bewegung gelungen ist, das Verhältnis von Subjekt und Objekt aus der Ebene persönlicher Schuldzuweisungen mit ihren endlosen, zirkulären Vorwürfen zu befreien und bis auf die logische Struktur zu verfolgen, ist für Žižek bei ihm »etwas geschehen, ein Durchbruch in eine einzigartige Dimension« (WaN, 330).

»Die Verschiebung von der Negation zur Negation der Negation ist somit eine Verschiebung von der objektiven zur subjektiven Dimension. Bei der direkten Negation nimmt das Subjekt eine Veränderung im Objekt wahr (dessen Zerfall, den Übergang in sein Gegenteil), während es sich bei der Negation der Negation in den Prozess mit einschließt und mitberücksichtigt, dass sich der beobachtete Vorgang auf seine eigene Position auswirkt.« (WaN, 412)

Im Grunde geht es um das Wechselverhältnis einer Wahrheit, die ihrem eigenen Wesen nach unendlich ist, und einem Subjekt, das von seiner Natur her endlich ist und diese Wahrheit fassen will. Beide sind aufeinander angewiesen. Žižek kann an dieser Stelle unbegrenzt Beispiele anführen, von der stalinistischen Säuberung der Gesellschaft von ihren Feinden, einer Vielzahl von Filmen, Kriminalromanen und Judenwitzen bis zu aktuellen Phänomenen der political correctness (wobei am Beispiel der Germanistin, Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Avital Ronell sein eigenes Agieren in der #Me Too-Kampagne zeigt, wie er sich den Tücken dieser Prozesse nicht zu entziehen vermag). Letztlich kommt das Denken zurück auf eine Einsicht, die bereits Heraklit vertraut war: »Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich: sie leben gegenseitig ihren Tod und sterben ihr Leben.« (Heraklit, Fragment 62).

Anhang 1: Heidegger zu Wahrheit und Reflexion

Heidegger hat die neue Deutung der Reflexionsbegriffe in gewisser Weise bereits vorweggenommen, jedoch ohne die Dramatisierung als Exzess, sondern umgekehrt als sein Verständnis des platonischen Eros. In seiner Auslegung des Dialogs Theaitetos unterscheidet er mit Platon: Mit den Sinnen und dem Verstand werden die einzelnen Qualitäten, Quantitäten und Relationen wahrgenommen, sowie die an ihnen nachweisbaren inneren Regeln. Die Sinne und der Verstand beziehen sich auf die zweiten Kategorien und was sich an ihnen empirisch und mathematisch erkennen und beschreiben lässt. Doch wie gelingt es, die Eindrücke der verschiedenen Sinne zusammen zu bringen, z.B. das Himmelsblau und den Lerchengesang eines schönen Sommertags? Dafür bedarf es der Seele (psyche) und ihres Strebens, über die zweiten Kategorien hinaus deren Grund in der ousia zu finden. »Ich bin dafür, die ousia gehört zu dem, woraufzu die Seele selbst durch sich und für sich hinstrebt (eporegesthai).« (Platon Theaitetos, 186a, in der Übersetzung von Heidegger 1931, 203) »Es ist jenes Erstrebnis, darin wir als Maß und Gesetz dasjenige walten lassen, was das Da-sein als solches von Grund aus ermöglicht und trägt. Platon nennt dieses Erstrebnis des Seins auch eros.« (Heidegger 1931, 216) Während die Sinne und der Verstand einzelne Eindrücke, Vorstellungen und Einsichten haben, ist für die Seele der eros selbst das höchste Ziel. Sie wird nie die ousia in einer Art und Weise sehen oder finden können, wie eine Farbe oder eine Regel gesehen bzw. nachvollzogen werden können, sondern findet sich selbst in der offenen Bewegung ihres eros zur ousia, umgangssprachlich meist abwertend gesagt: der platonischen Liebe.

Während die Sinne und der Verstand die zweiten Kategorien wahrnehmen, messen und protokollieren, ist die Seele darauf angewiesen, dass sich die ousia in ihrer Unverborgenheit (aletheia) zeigt. Daher unterscheidet Heidegger zwei Wahrheitsbegriffe: Die Wahrheit für die Seele und die Gewissheit für den Verstand. Mit aletheia ist gemeint, »wenn es (die ousia, t.) sich selbst als das und in dem zeigt, was es ist« (Heidegger 1931, 118). Der Verstand kann dagegen gestützt auf sinnliche Wahrnehmungen und sein Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen nur Aussagen treffen. Dabei können ihm ungewollt Fehler unterlaufen, die er jedoch bei genauerer Untersuchung erkennen und korrigieren kann. Für ihn ist das Gegenteil von Wahrheit nicht eine sich entziehende Wahrheit, sondern pseudos, »Unwahrheit, Falschheit, Unrichtigkeit«, oder schlicht eine »Verdrehung«, das »Gelogene« (Heidegger 1931, 134, 136) möglicherweise auch in täuschender Absicht das »nichtig, eitel«, um etwas oder sich selbst als mehr erscheinen zu lassen, als es ist (Heidegger 1931, 272). Die Seele dagegen sagt nichts über Wahrheit aus. Ihre Wahrheit ist die Unverborgenheit des Seins, der sie in ihrem eros zugeneigt ist. Ihr drohen keine Fehler wie dem Verstand, sondern dass sich das Sein in einem Strom des Vergessens entzieht und ihr eros unerfüllt bleibt. »lethe (das Gegenteil von a-letheia, t.) ist, echt griechisch, kein Erlebnis (das haben die Griechen gottseidank nicht gekannt), sondern ein schicksalhaftes Geschehen, das da über die Menschen hereinbricht.« (Heidegger 1931, 140).

Für die traditionelle Logik gilt der Wahrheitsbegriff der Richtigkeit und der Gewissheit. Für sie gilt als logisch, wenn dank geeigneter formaler Methoden Fehlschlüsse vermieden werden können. Trotz aller dialektischen Erweiterungen gilt das in gewisser Weise auch noch für die Übergänge und Entwicklungen in den Lehren des Seins und des Begriffs bei Hegel. Das In-sich-Scheinen fällt dagegen in den Bereich der aletheia. Am Widerspruch scheint nur dann der Grund auf, wenn er sich in seiner Unverborgenheit zeigt. Eine Kritik des dialektischen Widerspruchs wie die von Popper kommt – in der Ausdruckweise von Heidegger – noch nicht einmal in den Fragebezirk der aletheia.

Heidegger sah sich in einer dürftigen Zeit, in der sich die Wahrheit entzieht. Wenn heute ein Denken wie das von Popper dominiert, kann ihnen das nicht als Absicht, Täuschung oder Unwissenheit vorgeworfen werden. Sie können nicht anders. Wenn die Reflexionsbegriffe nicht mehr ineinander scheinen, zerfallen sie und lassen einen Menschen zurück, der seine Identität und Sprache verliert, einen Eindimensionalen Menschen (Herbert Marcuse [1898-1979], der 1928-32 Schüler von Heidegger in Freiburg war und dort sicher dessen Vorlesung über Platons Theaitetos gehört hat).

Aber macht es sich Heidegger nicht zu einfach, wenn er sein eigenes Verhalten hinter dem Schleier einer sich entziehenden Wahrheit verschwinden sieht und sich daher von aller Reflexion über das eigene Tun befreit glaubt? Verfällt er in diesem Moment der Reflexionslosigkeit seinerseits der Bewegung, die er ansonsten bei anderen kritisiert? Während sich Marcuse außer in einigen Briefen nicht über den persönlichen Weg von Heidegger geäußert hat, fragte der Religionsphilosoph Klaus Heinrich (* 1927) in seinem 1964 veröffentlichten Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, warum Heidegger zu keiner kritischen Distanz und Reflexion seiner Zeit und seinem eigenen Verhalten gegenüber fähig war, nicht nur in den Jahren vor und während des Nationalsozialismus, sondern auch der Unfähigkeit, nach 1945 zu verstehen, was geschehen war. An Heideggers Unfähigkeit zur Reflexion zeigt sich für Heinrich exemplarisch die Schwierigkeit nein zu sagen. Heideggers ursprünglich kritischer Impuls, sei es gegenüber den engen Verhältnisse auf dem Lande in Meßkirch, der katholischen Kirche oder dem Konkurrenzkampf im akademischen und öffentlichen Leben, entglitt ihm. Der Sich-Selbst-Zerstörende nimmt nur unbestimmt wahr, was ihm geschieht, und erlebt die allgemeine Zerstörung als herrschende Bewegung und will auf paradoxe Weise trotz aller Kritik an ihr teilhaben und in ihr Geborgenheit finden. So verlor Heidegger erst jede Distanz gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung und war später unfähig, das eigene Verhalten zu erkennen und Worte der Reue zu finden. »Als Freud starb, war niemand in Europa, der nicht erfaßt war vom Sog.« (Heinrich, 138) Heinrich beschreibt im Detail, wie in diesem Sog die elementaren Reflexionsbegriffe wie Identität, Verschiedenheit, Widerspruch und Grund zerfallen. Das ist keine psychologische Beschreibung eines Persönlichkeitszerfalls, sondern der logische Zerfall eines Denkens, das sich gegen den eigenen Willen und dem eigenen Anspruch innerlich der Bewegung annähert, die es zu kritisieren vermeint.

Heinrich nähert sich in seiner Kritik an Heidegger von einer anderen Seite der Reflexionslogik von Hegel. Er trifft die Seite, die Žižek verborgen bleibt. Der Exzess und der Hunger nach Sein sind ebenso wie ein maßloses Prinzip der Negativität Erscheinungen des Soges. Mit Heinrich wird indirekt die kritische Beobachtung nahegelegt, dass auch Žižek Gefahr läuft, sich auf dem Umweg über Lacan von einer vergleichbaren Haltung der selbstzerstörerischen Unruhe und eines unbedingten Dazu-gehören-Wollens ergreifen zu lassen, sein maßloser Wunsch, immer und auf allen Gebieten und an allen Orten unbestreitbar auf der Höhe der Zeit und dabei zu sein, nichts zu verpassen und nie zu spät zu kommen.

Anhang 2: Higgs-Mechanismus

Siehe den Abschnitt im Beitrag Emergenz und Higgs-Mechanismus

Siglen

HW: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971; Link

KrV: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787)

LtN: Slavoj Žižek: Less than nothing, London 2012

WaN: Slavoj Žižek: Weniger als nichts, Berlin 2014 [2012]

Literatur

Fritjof Capra: Das Tao der Physik, Bern, München, Wien 1983

Dietmar Dath: Ganz ohne ein System wird Denken unbequem; FAZ vom 3.2.2015

Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt 1993 [1969]

Jean-Pierre Dupuy: The Mark of the Sacred, Stanford 2013 [2008]

Hinrich Fink-Eitel: Dialektik und Sozialethik, Meisenheim am Glan 1978

Manfred Frank: Der unendliche Mangel an Sein, Frankfurt 1975

Markus Gabriel: Machwerk des Subjekts; ZEIT vom 8.3.2015

Martin Heidegger 1922: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Natorp-Bericht), Stuttgart 2003 [1922]

Martin Heidegger 1931: Vom Wesen der Wahrheit, Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, Frankfurt am Main 1988, Gesamtausgabe Bd. 34, Vorlesung in Freiburg im Wintersemester 1931-32

Martin Heidegger 1936: Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Tübingen 1995, Vorlesung gehalten 1936

Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigigkeit nein zu sagen, Basel, Frankfurt 1982

Dieter Henrich 1967: Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt am Main 1967

Dieter Henrich 1971: Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971

Christian Iber: Metaphysik absoluter Relationalität, Berlin, New York 1990

Karin Janker: Avital Ronell - Linke Intellektuelle unter "Me Too"-Verdacht; SZ vom 12.7.2018, siehe auch NZZ vom 29.6.2018 und NZZ vom 26.8.2018

Jacques Lacan: Encore: Das Seminar, Buch XX, Weinheim 1991 [1975]

Darian Leader: Warum Frauen mehr Briefe schreiben, als sie abschicken, München 1996

Robert B. Pippin: Zurück zu Hegel? Slavoj Žižek: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus; theoriekritik vom 31.5.2015
jetzt enthalten in: Robert B. Pippin: Die Aktualität des Deutschen Idealismus, Berlin 2016, S. 403-436
zuerst erschienen als Back to Hegel? in: Mediations Vol 26.1-2 (2012-13); Link

Claus-Artur Scheier: Luhmanns Schatten, Hamburg 2016

Friedrich Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit
in: Schelling: Werke Band 3, Leipzig 1907 [1809]; online bei zeno

Walter Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart, Köln 1955

Slavoj Žižek: Die Nacht der Welt, Frankfurt 1998

Alenka Zupančič: The Fifth Condition
in: Peter Hallward (Hg.): Think Again, London 2004, 191-201

Bildnachweis des Titelbildes: Von Sonia y natalia - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link


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